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Kolumnen_ Depeschen an die Provinz/Episode 41

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Gleisträume

Will man sich in den Vororten verorten, dann braucht man auch die praktische Verkehrsverbindung. Der EVOLVER-Stadtkolumnist begrüßt den Herbst mit einer Fahrt ins Grüne - und stimmt dabei ein Lob der Vorortelinie an.

Ruhig und gelassen zieht sie ihre Spur über die Schienen. Sie gleitet durch historisch wertvolle Bahnanlagen, fährt am Wertheimsteinpark entlang und unter dem Türkenschanzpark hindurch, stattet kurz dem noblichen Cottage einen Besuch ab, blickt von Gersthof auf den Schafberg hinauf, schwebt über den Hernalser Friedhof, gewährt Einblicke in Ottakringer und Penzinger Wohngegenden und landet schließlich ganz im Westen Wiens, wo die schönsten Ausflüge beginnen.

Das war jetzt aber ein poetischer Anfang, was? So kann das natürlich nicht weitergehen. Schließlich ist die Wiener Vorortelinie eine ganz normale Nahverkehrseinrichtung (sehen Sie, solche Beamtenbegriffe blasen gleich die ganze Poesie weg ...), die unter dem Namen S45 zwei wichtige Bahnhöfe Wiens verbindet: Heiligenstadt und Hütteldorf. Gut, das tut die U4 auch, aber um welchen Preis? Sinnloses Gedränge. Arrogante Innenstadt-Aktenkofferträger. Regierungsgesteuerte Antifa-Drohnen auf Debil-Demos. Schlecht gelaunte Junkies, die ihre täglichen Sternfahrten vom Karlsplatz aus zu den strategisch über die Stadt verteilten Dealerstationen unternehmen. Randalierende Fußballfans. Pizza-, Nudel- und Kebabfresser, die mit vollem Mund in ihre Handys plärren. Verrückte Frühpensionisten und -innenInnen, die mit ihren kindischen Tretrollern in die Waggons platzen. Studenten. (Es gibt nichts Schlimmeres als Studenten, das müssen Sie mir glauben ...) Das endlose und endlos langweilige Wiental. Und all das spielt sich zwischen einer Endstation und der anderen auch nicht schneller ab als mit der S45 - kommt einem aber seeeehr viel länger vor.

Es passiert nicht oft, daß man als passionierter Wiener (der sogar sein fehlgeleitetes Exil in der Provinz überstanden hat) in der eigenen Heimatstadt etwas Neues entdeckt. Das heißt: Neu ist die Vorortelinie ja gar nicht, sondern bereits 1898 unter der Ägide des Kaiserlich-königlichen Eisenbahnministeriums eröffnet worden. 1942 wurde sie dann - im Gegensatz zu den anderen Stadtbahnlinien - Gott sei Dank nicht von der Gemeinde übernommen, sondern verblieb im Besitz der Bundesbahn. Das merkt man auch: Die Sitze und Böden sind sauberer als in den Garnituren der heutigen Wiener Unglückslinien; die Stationen von Otto Wagner sehen noch wirklich wie Bahnhöfe aus und nicht wie Monumente architektonischer Unfähigkeit, die als temporäre Folterkeller für die geknechteten Massen dienen; und irgendwie schafft es die ÖBB sogar, ihre Züge nicht zum Sandler-Expreß verkommen zu lassen.

Gut, auch die S45 wurde ein paar Jahre nach ihrer glorreichen Wiedereröffnung im Jahre 1987 bis zu einem bizarren Vorhof der Hölle weitergeführt: dem Millennium Tower, wo man damit rechnen muß, auf der Rolltreppe abgestochen zu werden, wenn man was Falsches sagt. Aber solche Abwege muß man eben ignorieren und rechtzeitig den Zug verlassen - oder sich einfach in der anderen Fahrtrichtung an den Schönheiten der Wienerwaldbezirke erfreuen. Während der Reise kann man daran denken, was man sich alles erspart: Die U1-Station am Stephansplatz zum Beispiel, in der es immer so riecht, als hätte man sie in eine mittelalterliche Speibgrube (die gleich neben den Pestgruben errichtet wurden, aber das weiß heute keiner mehr) gebaut. Den Schwedenplatz, wo man sich nur gern länger aufhält, wenn man grad einen Artikel für die Psychiatrische Rundschau recherchiert. Die unendlichen Weiten Transdanubiens oder auch Liesings, wo selbst die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr genau wissen, was sie dort eigentlich wollen - und schauen, daß sie möglichst schnell wieder in die Zivilisation zurückfinden.

Aber nein, wir wollen doch positiv bleiben. Wir lehnen uns in den gemütlichen Eisenbahnsitzen zurück und erhaschen im Vorbeifahren einen kurzen Blick auf eine fesche junge Krankenständlerin, die sich nackt hinter ihrem Wohnungsfenster sonnt. Wir sind froh darüber, daß uns Chris Lohner in der Vorortelinie begrüßt und mysteriöserweise verkündet, daß dieser Zug "als Kurzzug geführt wird" (wann kommt endlich der Langzug?); keinen Augenblick jedoch vermissen wir diese penetrante neue Stimme aus der Straßenbahn, die uns mit teleologischer Bestimmtheit erklärt, daß "wir am Ziel sind" – woher will die Person überhaupt wissen, wo wir im Leben noch hinwollen? Und irgendwann steigen wir aus und bleiben in den Vororten. So läßt sich jede Stadt ertragen.

Depeschen aus der Provinz

Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien und zwischendurch eine Zeitlang in der Provinz. Jetzt ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Endlich.


Kolumnen_ Fundamentalteilchen 6/406: Haruki, Elvis und ich

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Literatur ist es, wenn man trotzdem lacht


Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die sechste Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Elvis Costello.

Jeder von uns hat jemanden, von dem er nichts hören will, und jeder hat auch jemanden, von dem er was hören will. Das Problem ist nur, sie dazu zu kriegen, zu merken, wer sie sind. Wenn ich das thematisiere, dann höre ich immer wieder mal von an und Pfirsich gar nicht so dummen Mitmenschen ganz unterschiedliche Scheinargumente: "Du kannst halt nicht loslassen!" Doch, kann ich, fragt mal die Gießkanne, die mir beim Blumenwässern vom Balkon runter auf die trocknende Wäsche von Frau Suhrbier gefallen ist."Du suchst Dir immer die falschen Freunde!" Das stimmt auch nicht, es sind nur manchmal die richtigen Freunde im falschen Moment.Oder:"Du als Schriftsteller müßtest ‚das‘(Platzhalter) doch klar und deutlich formulieren können". Dieser Hinweis auf meine mehr oder minder ordentlich ausgeprägten und geschulten schreiberischen Fähigkeiten wird speziell von Zeitgenossen, die mir besonders nahe stehen, oft noch mit unpassenden Ergänzungen versehen: "Du hast doch sonst so ne große Klappe!","Sei doch kein Feigling!" Ich habe schon öfter mal nachgefragt, was denn nun Mut mit Talent oder Können zu tun haben würde. Gut, die Antworten waren ebenso identisch wie verblüffend – da hätte ich schon selbst draufkommen können – und wahr. Sie passen aber halt nicht zur ganz oben im Text angerissenen Problemstellung: Mit etwas mehr Zutrauen und Mumm würde ich längst schon deutlich mehr geschrieben, veröffentlicht und verdient haben. Ich stehe mir also, das soll damit gesagt werden, selbst im Weg. Speziell im engen Flur. Während ich da an mir vorbei will, rede ich mit dem Hippie im Spiegel und erkläre ihm, daß er mal wieder zu "Jimmy Ray’s Barber Shop" müßte. Es ist also was dran, an dem, was wohlmeinende Freunde so sagen. Es geht darum, die eigene kritische Unvernunft mit der unkritischen Vernunft der Mitmenschen in Einklang zu bringen. Klappt das, will man von diesen Leuten – genau: mehr – hören.

 

 

Nehmen wir nur mal die ehemals beste Liebespartnerin von allen: Die bezeichnete mich öfter mal als "meinen" (also ihren) Murakami. So weit ich weiß, hat sie durchaus schon was von dem Schriftsteller gelesen, den nicht nur ich, sondern auch der Kollege Winterer, auch Elvis Costello und Teile des Nobelpreiskomitees für einen richtig Großen halten. Deshalb wurde ich bei so einer Formulierungtrotz des liebevollen Approaches, der ihr zugrunde liegt, oft ganz klein. Ich denke dann an die Handvoll Geschichten, die ich bislang geschrieben habe und möchte mich am liebsten ganz feige ins hinterletzte Eck oder wie Donald Duck nach Timbuktu verkriechen. Aber diese Stimmung hält gottlob nicht ewig. Denn ich will ja gar nicht Murakami werden, genauso wie ich als junger Radiomoderator den Spitznamen "Westentaschengottschalk" nicht wirklich goutieren konnte. Wenn das Vorbild immer zur Beschreibung des eigenen Könnens herangezogen wird, steckt nicht nur Lob, sondern auch ein gewisser Spott in derselben Aktenmappe, die man mit sich herumschleppt. Also lassen wir Gottschalk sein und Murakami sollte auch Murakami bleiben. Denn dann haben wir vielleicht auch zukünftig was von den beiden Männern.

Oder vielleicht lasse ich hier mal den echten Haruki Murakami zu Wort kommen? Ok:「冷蔵庫を開けると、豆腐、野菜、果物、牛乳、サンドイッチ、ハムなどの腐った食べ物が何とも言えない悪臭に襲われました。私はすべてを大きなゴミ袋に捨てて、地下のゴミ箱に持っていきました。それから彼は見上げた。「アパートを元の状態に戻すには、3時間かかります。」


Auf gut Deutsch: "Als ich den Kühlschrank öffnete, schlug mir ein unbeschreiblicher Gestank von verdorbenen Lebensmitteln entgegen: Tofu, Gemüse, Obst, Milch, Sandwiches, Schinken und solche Sachen. Ich warf alles in eine große Abfalltüte und brache sie zu den Müllcontainern im Keller." Der junge Mann griff nach seiner leeren Espressotasse und beachtete sie von allen Seiten. Dann blickte er auf. "Ich brauche drei Stunden, um die Wohnung wieder annähernd in ihren Ursprungszustand zu versetzen."

 

 

Sie denken, daß das echt von mir sein könnte und verstehen somit, was die Ex mit "mein Murakami" meinte? Nun, das ist unfair dem Meister gegenüber. Denn er hat zwar mit durchaus Prescher-ähnlichen Worten beschrieben, wie es mir inmitten meines Chaos ging, nachdem die Beziehung die Milchstraße runter ging. Aber Murakami hat so viele dichte und unglaublich schöne Bücher auf dem Kreativkonto, daß es unfair ist, ihn auf profane Prescher-Elemente wie "Kafuku war schon mit vielen Frauen im Auto mitgefahren. Er unterteilte sie grundsätzlich in zwei Typen: Die einen fuhren zu vorsichtig, die anderen zu waghalsig" zu reduzieren.

Dieser Romananfang könnte glatt von mir sein und Kafukus Ansicht in puncto weiblicher Autofahrerei stimmt. Ich kann ergänzen, daß praktisch alle Damen, mit denen ich in der Weltgeschichte herumfahren durfte, so ausgezeichnet mit ihrem Fahrzeug und den Herausforderungen des Verkehrsalltags zurechtgekommen sind, daß die meisten Männer im direkten Vergleich älter aussehen als Gandalf nach der Schlacht um Helms Klamm.

Um aber zu Murakami zurückzukommen: Ein großer Unterschied zwischen mir und ihm ist, daß er weniger zaudernd mit dem eigenen Können umgeht. Er sagte mal in einem "Aspekte"-Interview, daß er die Zweifel hinter sich lässt, sobald er sich auf eine Geschichte einlässt." Es gibt also bei ihm, ganz im biblischen Sinn, für alles eine passende Zeit. Und Zweifel gehören zur Dichterseele. Wer nicht an sich zweifelt, mutiert am Ende gar noch zu Xavier Naidoo oder Attila "Hunnenkönig" Hildmann. Aber irgendwann muss einfach mal Schluss sein. Schluss mit Trauer, Schluss mit Jammern und Schluss mit den Zweifeln. Es ist alles eine Frage der Abwägung und – siehe "Hohelied der Liebe", besser bekannt als "Turn! Turn! (To Everything There Is a Season)" – des Zeitpunkts.

Oder um die fast Murakami-große Marie von Ebner-Eschenbach zu zitieren: "Es gibt Fälle, in denen vernünftig sein feige sein heißt." Das gilt im persönlichen Bereich,etwa,wenn man erkennt, daß man nicht Murakami ist und ihm auch nicht das Wasser reichen kann. Als großer Mann kommt er aber ohne meine Hilfe an Glas und Karaffe, kann sich also selbst versorgen.

 

 

Erst recht gelten die Worte von Ebner-Eschenbach auch für übergeordnete Zusammenhänge: Es ist vernünftig, feige zu sein, wenn man "an die Waffen" gerufen wird. Es ist vernünftig, feige zu sein, wenn man merkt, daß die Menschentraube auf der anderen Straße auf Krawall gebürstet ist. Und so weiter.Feigheit ist zwar keine Zier, aber manchmal überlebt man nur mit ihr. "Seid nicht feige, lasst mich hinter den Baum" sang Ulrich Roski einst. Weniger egoistischer wäre es natürlich, sich gemeinsam aus der Gefahrenzone zu ziehen und in einem sicheren Erdenwinkel aus den Werken von Marie, Haruki oder Manfred zu lesen. Lesen bildet, bilde ich mir ein. Auf jeden Fall ist es ein angenehmer Zeitvertreib, bei dem man allerhöchstens auf blöde Gedanken kommt. Blöde Handlungen sind – zumindest für die Momente des Buchstabierens– ausgeschlossen.

Es gibt dann natürlich auch wieder Zeiträume, in denen eine Flucht in die Bücherwelten eher schlecht für Leib und Lebenist: Zum Beispiel, wenn die Uruk-hai dabei sind, nach der Klammbrücke auch noch den Festungswall zu überwinden und dabei ein solches Getöse verursachen, daß einem die Worte Murakamis im blätternden Zeigefinger stecken bleiben. Dann sollte man längst feige die Flucht ergriffen haben, wie es Elvis Costello in seinem neuen Song "We Are All Cowards Now" besingt.

Alle Menschen sind Feiglinge – manchmal zumindest. Und die, die es nicht sind, sollten es in Erwägung ziehen. Aber das Herumphilosophieren muss ein Ende haben: Ich setze mich auf das Sofa, meine beiden Hundlichkeiten links und rechts neben mir, vor mir ein schönes Glas Kilkenny. Ich werde mich gleich in Murakamis "Wenn der Wind singt" vertiefen. Es ist seine Literatur, und er teilt sie mit mir, mit Costello und vielleicht sind auch Marie von Ebner-Eschenbach und meine Ex in der Lage, diese herrliche Poesie zu genießen. Wo immer sie grad auch sein mögen, ich wünsche es ihnen. Später telefoniere ich mit jemandem, der weder mich noch sich für Murakami hält, selbst aber wie Elvis Costello aussieht. Dieser Mensch heißt Godot, und wenn man lang genug wartet, kommt er sogar. Er gehört zu den Leuten, von denen ich hören will – und das nicht nur, weil er fast so gut singt und Guitarre spielt wie Elvis.

 

"Weißt Du, sie wird nicht zurückkommen", sagte Godot

"Ich weiß", antwortete ich

"Mir fehlt sie nicht", sagte Godot

"Ich weiß", antwortete ich

"Aber warum sie mir nicht fehlt, weißt Du nicht", sagte Godot

"Ich weiß", antwortete ich.

"Du bist ein Haubentaucher", sagte Godot

"Ich weiß", antwortete ich

 

Man sollte meinen, daß einer wie Godot etwas Feingefühl aufbringen könnte, aber ich war zu feige, ihm das zu stecken. "Nächstes Mal", dachte ich, während wir redeten, werde ich nur eine WhatsApp-Nachricht schreiben. Aber das Telefonat wurde dann noch auf seine schlichte Art richtig ergreifend. Wir vereinbarten uns zu treffen, über ganz besonders alte Zeiten zu plaudern, längst vergessene Texte aus den Tiefen der Vogesen herauszufischen, sie uns gegenseitig vorzulesen. Das waren echt mal Aussichten. "Den Müll nehme ich später mit runter, wenn die Hunde auf die nächtliche Walz wollen", dachte ich und genoß den Abend.

Manfred Prescher - Es war nicht alles schlecht: Best of Miststück


Kolumnen 2005 bis 2020

Fotos c: Concord/Elvis Costello

Stories_ Rokko´s Adventures im EVOLVER #104

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Die Archive des Dr. Burns


Dr. Stanley Burns hat sich in seinem unauffälligen Sandsteinhaus in Manhattan seine eigene Sammlung geschaffen, in der er arbeitet, lebt, und atmet. Darin zu finden: mehr als eine Million historische Photos aus existentiellen, medizinischen, kriegerischen und kriminellen Prozeduren, die die menschlichen Entwicklungen von 1850 bis 1950 schonungslos dokumentieren - und damit auch die Gegenwart sowie zukünftige Entwicklungen bzw. Dummheiten besser begreifbar machen.

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Kaum drückt man die Klingel, hört man aus dem Inneren des Gebäudes schon Schritte und eine Schlüsseldrehung. Eine freundliche Dame im besten Alter öffnet die Haustür und bittet höflich hinein. Man befindet sich in keinem offiziellen Ausstellungshaus, vielmehr in einem angeräumten Zuhause, dessen Schätze über mehrere Stockwerke wuchern. Der vielbeschäftigte Doktor wird aus dem 1. Stock geholt, während man sich bereits im Vorspiel der Sammlung verliert: An den Wänden hängen Photos von anatomischen Abnormitäten, die einst in Freakshows gezeigt wurden, medizinischen Praktiken wie Fußamputationen im Rohformat, scheußlichen Erkrankungen und innovativen Lösungsvorschlägen, Obduktionen, sowie Bilder aus Konzentrationslagern, von Bürgerrechtsbewegungskämpfen, Kriegsverletzungen, exotischen Ritualen und Beerdigungspraktiken, bis zu handkolorierten, ersten photographischen Versuchen und schmuckvollen Totenbildern. Der Schatz, auf dem Stanley Burns sitzt und der sich in den nächsten Stunden offenbaren wird, ist die unbezahlbare Ernte einer gut 40jährigen Obsession.

Der studierte Augenarzt - ein stattlicher Herr mit auffälliger Rahmenbrille - steigt nun die Stufen herunter und stellt sich vor. Neben seiner Archivarbeit kümmert er sich auch um die Wissensvermittlung und hat mittlerweile unzählige Artikel für Fachzeitschriften und Bücher geschrieben, von denen viele im Eigenverlag in limitierter Auflage zu gehobenen Preisen angeboten werden: Investitionen, die sich lohnen, denn wenn es ans Eingemachte geht, gehen sie alle zu ihm. Sowohl internationale Museen als auch Film- und Fernsehproduktionen greifen auf Stanley Burns´ Wissen und Material zurück: Die Koryphäe der Schmerzzonen war Berater für "Das Schweigen der Lämmer" (worin The Falls Song "Hip Priest” gespielt wird, aber das hat nicht Dr. Burns zu verantworten), "Total Recall", "Gangs of New York" und jüngst die HBO-Serie "The Knick", um den Machern zu erklären, wie diverse medizinische Eingriffe um 1900 tatsächlich vonstatten gegangen waren.

Stanley Burns ist großzügig, seine einzige Mangelware: Zeit. Deswegen ist sein Domizil auch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Schafft man es aber hinein, braucht man nur kurze Andeutungen zu geben, um ihn aus der Reserve zu locken. Ich blicke auf ein Photo, das wie eine Mischung aus Mickey-Mouse-Parade und Fetischfeier im Kriegsgebiet aussieht. 

 

 

Burns - ein Experte für Kriegsführung, der historische Schlachten genau erklären kann, welche Artillerie welche Strategie wählte, wer durch Hochmut verlor, wer durch Geschick gewann - hat zu jedem Photo etwas zu sagen und hakt mit Vergnügen ein: "Das stammt aus der Zwischenkriegszeit. Nachdem Hitler Deutschland übernommen hatte, hatten alle Angst vor dem Zweiten Weltkrieg und der Verwendung von Giftgas. Deswegen wurden in ganz Europa an die breite Bevölkerung Gasmasken verteilt: in England, in Deutschland, in Österreich, der Tschechoslowakei, in Polen, in Spanien ... Das Giftgas wurde dann nirgends verwendet - außer in den Vernichtungslagern. Ich hab´ noch ein Bild, wo 8.000 Kinder in Berlin mit Gasmasken drauf sind, wie sie 1938 durch eine Gaskammer spazieren. Diese Trainings, in denen Tränengas verwendet wurde, sollten ihnen die Angst vor Gasattacken nehmen." Wo genau dieses Photo nun ist? Stanley Burns kratzt sich an der Stirn. Das weiß er oft selbst nicht - was bei der Dimension seiner Sammlung kein Wunder ist.

 

Das etwas andere Familienarchiv

 

Um Kontrolle zu behalten, helfen ihm seine drei Mitarbeiterinnen - allen voran seine Tochter Elizabeth Burns, von allen Liz genannt -, die oben an ihren Computern sitzen, scannen und sortieren. Wir bewegen uns langsam in den ersten Stock. Kein Wandzentimeter ist hier ungenutzt. Der Chef bleibt stehen und zeigt auf ein Photo mit drei fröhlichen Herren in Uniform: "Ich habe ca. 200 private Photos von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich will wissen, was sie gemacht haben - abseits von all den gestellten Darstellungen. Auf diesem Photo sehen Sie drei Leute, die mit ihren Lugers herumblödeln. Die waren beim Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS. Mit ihrer Luger haben sie Gefangenen ins Genick geschossen. Ich hab´ das später für eine Ausstellung 'Brain Specialists' genannt." Ob er wisse, was der eigentliche Zweck dieses Photos wäre? "Ja, das kommt aus einem privaten Photoalbum: ein paar Freunde, die miteinander Spaß hatten. Ich habe viele solcher Photos, von Kumpels beim Scherzen. Schauen Sie, das ist das Poster von der 'Entartete Kunst'-Ausstellung. Ich wünschte, ich hätte die dort ausgestellten Bilder, dann bräuchten weder ich noch meine Kinder oder Enkelkinder je wieder zu arbeiten", lacht er, den im Grunde die Arbeit am Leben hält - aber eben Arbeit, die er sich selbst geschaffen hat, die für ihn keine Belastung, sondern Entfaltung bedeutet.

Wir kommen im ersten Stock an und werden herzlich empfangen. Liz Burns und ihr Vater sind ein Herz und eine Seele; die Tochter kann über seine Eigenheiten schmunzeln und im "Familienarchiv" ihre eigenen Leidenschaften ausleben. Sie ist langsam in das bizarre Archiv hineingewachsen: Ein kontinuierlicher Lernprozeß ist essentiell, da die Bilder voller Geschichten stecken, für den Laien aber oft ein großes Fragezeichen bleiben. Stanley Burns hat über die Jahrzehnte gelernt, sie zu dechiffrieren: "Der einzige Grund, warum ich das kann, ist, weil ich ein enzyklopädisches Wissen über die Geschichte und eine riesige Bibliothek mit mehr als 10.000 Büchern habe. Ich sehe ein Bild und kann sofort sagen, woher und aus welcher Zeit es kommt. Egal ob China, Polen oder Aserbaidschan - ich weiß, worum es geht." Und dieses Wissen will er weitergeben. Ich zeige auf ein Photo an der Wand, auf dem ein deformierter Mensch abgebildet ist und aussieht, als hätte er drei Augen. Ob er sich erinnern kann, woher er das hat? "Nein, ich hab´ das vor 30 Jahren oder so gekauft. Seit den 1970ern sammle ich, und ich kaufe jeden Tag dazu, zu verschiedenen Themen. Hier ein kurzes Beispiel", sagt er und öffnet eine Tür zu einem anderen Raum: "Das ist mein 'Crime Photography'-Raum. Er ist gefüllt mit Schachteln über Schachteln, die alle voll mit Photos sind." Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "Es gibt hier mehrere solcher Räume."

Kontrolle zu behalten ist schwer, gearbeitet wird an verschiedenen Büchern gleichzeitig, damit sich das Durchforsten auszahlt. Ob er manchmal Photos findet, an die er sich gar nicht mehr erinnern kann, wo er von seiner eigenen Sammlung überrascht wird? Dr. Burns schüttelt den Kopf: "Nein, das passiert mir nie." Dann lacht er, blickt auf seine Tochter, und die prustet los: "Andauernd! Na gut, das ist eine Übertreibung, aber er findet oft Photos erst nach Jahren und ist nach wie vor entzückt von ihnen." Burns sen. wird wieder ernst: "Uns hat immer nur zu interessieren, woran wir grade arbeiten - alles andere muß in den Hintergrund. Hier, die SS bei einer privaten Feier, und einen von den Soldaten sehen Sie mit einem jüdischen Stern und einer Nummer drauf. Das ist die Anzahl der Juden, die er in dieser Woche umgebracht hat. Ich habe alle möglichen Leute hier gehabt, die führenden Archivare der internationalen Holocaust-Museen - und sie haben solche Photos noch nie gesehen. Oder das hier, ein Photo, das die SS vom Grand Palais in Paris gemacht hat: Ich habe es koloriert und eine Postkarte draus gemacht: 'Welcome to Paris!' " Trotz seiner manischen Sammlungswut hat der Herr Humor, auch wenn es um seine eigenen Babys geht. "Sie kennen doch Ansel Adams berühmte Photographie 'Moonrise over Hernandez'. Schauen Sie, ich habe keine Photos zu Kunst, Musik, oder Sport - das hat ja jede andere Sammlung. Ich habe die versteckten Themen. Aber ein Photo zeige ich immer meinen ach so künstlerisch interessierten Besuchern, die die ganze Kunstgeschichte auswendig kennen, und das ist das hier: Ich nenne es 'Moon over the Colorado' - eine viel schwierigere Aufnahme als 'Moonrise over Hernandez' ", lacht der Doktor. Auf dem Photo zu sehen: acht Leute auf einem Floß, die ihre Hose runterziehen und mit dem Arsch in die Kamera lächeln - und jedes Arschloch ist scharf fokussiert. "Wissen Sie, wie schwierig es ist, so ein Photo präzise zu schießen? Die werden gerade den Fluß runtergespült, das ist alles in Bewegung." Seine Tochter seufzt hinter ihrem Schreibtisch: "Niemand liebt dieses Bild so sehr wie du, Papa."

 

Gasmasken in allen Größen

 

"Wir haben ja unten von Gasmasken gesprochen. Wir haben grad ein neues Buch, lassen Sie mich Ihnen das zeigen. Zeig ihnen Europa!" ruft Stanley Burns zu Tochter Liz, die gleich darauf die eingescannten Photos am Computer arrangiert und in eine sinnvolle Reihenfolge stellt: "Ich will etwas erzählen, es reicht nicht, die Photos einfach nebeneinander zu stellen. Man braucht den Kontext, einen Aufbau, ein Narrativ - das ist viel Arbeit." Der Vater zeigt auf ein Photo am Bildschirm und setzt fort: "Dieses Phänomen gab es überall - außer in den USA. Jeder hatte seine Gasmaske rumzutragen." Auf dem Bild ist eine Mutter, die mit ihrem Baby unter einer riesigen, gemeinsamen Gasmaske steckt. Liz Burns klickt sich durch die von ihr zusammengestellte Serie und kommentiert: "Hier ein Gastest, alle Kinder müssen mit ihrer Gasmaske in der Schule sitzen. Hier, alle deutschen Kinder müssen durch Tränengas-Testfelder gehen. Hier, jeder muß eine spezielle Tasche mit seiner Gasmaske mit sich herumführen. Da sieht man Leute, die illegal Gasmasken verkaufen. Hier Nonnen, die anderen Leuten zeigen, wie man Gasmasken verwendet. Und hier Babies mit speziellen Gasmasken." Das letzte Photo sieht für mich aus wie eine Studioarbeit der Surrealisten, und Liz Burns quittiert vergnügt: "Genau! Die Beleuchtung ist unglaublich. Aber schauen Sie sich das an, das ist ein verrücktes Bild." Zu sehen ist eine Mutter mit Gasmaske, die ihr Baby in einem Gasmasken-Kinderwagen spazieren fährt, der eher wie ein Kindersarg mit Glasdeckel und Schornstein aussieht. Stanley Burns registriert mein Erstaunen: "So funktionieren unsere Bücher. Jeder will Dinge sehen, die er noch nie zuvor gesehen hat. Uns interessieren diese kleinen Aspekte der Geschichte, die oft das Zünglein an der Waage sind, aber nicht zum allgemeinen Wissen gehören. Wenn wir ein solches Spezialthema entdecken, erjagen wir alles, was damit zu tun hat. Andere Sammler wissen oft nicht, was sie vor sich haben, aber wir machen Bücher draus. Sind sie einmal ausverkauft, sind sie weg. Wir machen keine Neuauflagen, sondern arbeiten immer an neuen Werken, gerade an unserem 45., 46. und 47. Buch gleichzeitig."

Familie Burns hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Nebenstränge der Geschichte aufzuzeigen, die mindestens genauso wichtig sind wie die Hauptstränge. Geschichten darzustellen, die es noch nicht gibt, ist eine wahnsinnig intensive Arbeit. Liz Burns studiert jede einzelne Abbildung, probiert verschiedene Kombinationen und stellt etwa fest, daß der Mann auf einem Familienphoto in Amerika später alleine nach Europa in den Kriegsdienst gezogen ist. Die beiden Photos stammen aus völlig unterschiedlichen Quellen, aber Liz Burns bringt sie wieder zusammen. Sie ist in ihrer Photostrecke gefangen und kommentiert weiter: "Schauen Sie, das ist faszinierend: Frauen in Boston, die Pfirsichkerne sammeln. Mit diesen Kernen wurden Gasmasken hergestellt, man brauchte sie für die Filter. Und hier, mein Lieblingstierbild", grinst sie: Hunde und Eseln mit Gasmasken.

Stanley Burns steht auf und schreitet durch den Raum: "Das machen wir also, wir arbeiten am Tag und in der Nacht. Hier, das könnte Sie interessieren: Photos, die ich selbst in Mauthausen gemacht habe. Ich bin danach die Straße runtergegangen, und nach einer Viertelmeile ist diese Frau mit einer Sense aus dem Feld gekommen." Das Ergebnis: ein Photo, auf dem man die Anlage des Konzentrationslagers im Hintergrund sieht, während dem Photographen eine Bäuerin in Tracht, mit Kopftuch und einer Sense über die Schulter, entgegenkommt. Gruselig. "Ich hätte dieses Photo nicht inszenieren können, ich hätte nicht einmal dran denken können. Und dann kommt sie einfach so raus aus dem Feld ..." Das mag wie Zufall wirken, ist aber vielmehr die Frucht seiner Konsequenz, seiner Disziplin, die nach ungenannten leeren Kilometern solch Schätze hervorbringt. Seine Neugier treibt Stanley Burns noch heute: "Ich reise nach wie vor ständig und habe drei Leute, die für mich arbeiten. Aber nun nehme ich Sie einen Stock weiter rauf und zeige Ihnen, wie der Rest des Hauses aussieht."

 

Syphilis und moderne Kunst

 

Die schmalen, knarzenden Stiegen in den zweiten Stock sind von vollen Bücherregalen umrahmt, wir bewegen uns vorbei am Schwerpunkt Holocaust. Im Grunde ist Stanley Burns ein Historiker, der die ungeschriebenen Geschichten erkennen und sichtbar machen will, nicht ideologisch motiviert, sondern aus ehrlichem Wissensdurst, der einen immanent aufklärerischen Effekt in sich birgt und neue Erkenntnisse überhaupt erst zuläßt. Er forscht nicht, um bestätigt zu werden, sondern um neue Perspektiven zu erhalten. Oben angekommen, ist man umgeben von alten Photographie-Verfahren aus dem 19. Jahrhundert, Daguerreotypie und Ambrotypie. "Wir haben 92 Exemplare, mehr als jedes Museum." Sie hängen in den Originalrahmen an den Wänden, einige von ihnen sind handkoloriert. Nicht nur die Technik, auch das Gezeigte strotzt vor Besonderheit: die feine Kleidung der Abgebildeten, die sorgfältige Dekoration, ausgefallene Blumenarrangements und Accessoires. Wer sich das damals, in den 1840ern, leisten konnte? "Genau so ein Typ wie der auf dem Bild, der sich so einen großen Hut leisten konnte: die reiche Oberschicht", lacht Burns.

Der Nebenraum ist behängt mit Photos, auf denen Mütter mit ihren toten Babies posieren. Ob sich durch das Sammeln sein Verhältnis zum Tod verändert hätte? "Als Doktor gewöhnt man sich an den Tod, und ich war Chirurg während des Vietnamkriegs. Ich war nicht in Vietnam, sondern habe hier freiwilligen Dienst im öffentlichen Gesundheitssektor geleistet." Ob er nicht Objekte besäße, die ein unangenehmes Gefühl in ihm heraufbeschwören, sei es von Eingriffen, Krankheiten, oder Kriegshandlungen? "Ahmmm ... lassen Sie mich nachdenken ... nein, im Grunde nicht. Das sind einfach die Bilder, die ich sammle. Ich habe gerade einen Artikel für ein spanisches Buch geschrieben, und zwar über meine Arbeit und die Entstehung der modernen Kunst. Es wurde stets, auch in Fachkreisen, kolportiert, daß moderne Kunst sich aus dem Studium afrikanischer Masken primitiver Völker speist, und dazu wurde u. a. Picassos Gemälde 'Les Demoiselles d´Avignon' herangezogen. William Rubin (1927-2006, Kunsthistoriker, Chefkurator am New Yorker Museum of Modern Art) hat mich vor Jahren gefragt, ob ich mit ihm arbeiten möchte. Er hatte den Beweis dafür, daß moderne Kunst nicht von afrikanischen Masken kommt, sondern von an Syphilis erkrankten Menschen. William Rubin hat nachgewiesen, daß sich Picasso die Genehmigung besorgt hatte, die Syphilitiker in den französischen und spanischen Lazaretten sehen zu dürfen. Abgesehen davon, daß Picasso ein Frauenfeind war, zeigt 'Les Demoiselles d´Avignon' auch seine Angst vor dem weiblichen Geschlecht: er hat sie genommen und degeneriert. Die Idee dazu hatte er vom 'verlorenen Gesicht', das aus der vererbten Syphilis bekannt ist, und das einen genauso aussehen läßt wie die entstellten Frauen auf diesem Gemälde. Die meisten dieser Krankheitsphotos wurden zerstört, weil sie schrecklich aussahen, niemand wollte sie sehen. Obwohl Dr. Rubin das Museum of Modern Art hinter sich hatte, ließen sie sich nicht finden, sie waren weg - nur ich hatte sie in meinem Archiv."

 

 

Der Mensch ist ein dummes Tier

 

Nun geht es wieder abwärts, in den ersten Stock, in Stanley Burns Arbeitszimmer. Auf seinem riesigen Schreibtisch liegen Kuverts, in denen sich neue Ankäufe befinden: "Ich habe gerade ein Photo bekommen, das ich seit 40 Jahren gesucht habe. Entschuldigen Sie den Test, aber wissen Sie, wie man in Indien Leichen entsorgt?" In den Ganges werfen? "Ja, aber es gibt noch was." Verbrennen? "Ja, aber dann gibt es noch etwas." Die "Towers of Silence", wo sie langsam von Vögeln gefressen werden? "Genau! Und nach so langer Zeit habe ich endlich ein Photo gefunden, auf dem man sieht, wie sie den Körper im Turm arrangieren." Stanley Burns nimmt das Bild aus dem Kuvert, das wirklich eine magische Wirkung hat: der nackte Körper eines jungen Mannes wird in einen dieser von außen nicht einsehbaren gigantischen Türme gelegt, die bei Bestattungsritualen von Zoroastriern verwendet werden. In seiner Mitte ist ein rundes Loch, wo es einige Meter in die Tiefe geht. Rundherum ist der erhöhte Kreis, auf dem es drei Spuren gibt: eine für Kinder, eine für Frauen, eine für Männer. Der Körper wird hingelegt und an Armen und Beinen längsseitig aufgeschnitten, um die Geier anzulocken, die zu Hunderten kommen und die Leichenentsorgung verrichten. Ist das Fleisch weg, werden die Knochen langsam von Wind und Wetter in die mittige Senkung getragen. "Dieses Photo habe ich nun endlich gefunden, nicht einmal meine Spezialisten in Indien kannten es. Ich hab´ es aus einer englischen Sammlung, es muß etwa 1880 gemacht worden sein. Man sieht hier genau, wie sie den Körper präparieren, um es den Geiern einfacher zu machen. Das sind Phänomene, von denen man hört - so wie Sie -, aber niemand hat sie je gesehen. Der Mann mit dem Stock bewacht noch den toten Körper und scheucht die Geier fort. Aber man sieht sie schon warten, und kaum verläßt der Wächter den Turm, werden sie sich auf die Leiche stürzen und sie fressen. Sie sind ja ein schlauer Herr, aber ich wette mit Ihnen, Sie können sich an keinen einzigen Satz erinnern, den Sie letzte Woche gelesen haben. Und ich zeige Ihnen hundert Photos, an die Sie denken werden, bis zum Tag, an dem Sie sterben."

Es folgt eine weitere Probe aufs Exempel: "Hier, Wasserfolter im Sing Sing Prison. Man sieht, wie der Häftling festgebunden wird, und ein Tropfen nach dem anderen landet langsam auf seinem Kopf." Das Photo ist aus den 1860ern, und bis heute gibt diese Anstalt im Bundesstaat New York nicht zu, solche Praktiken je angewandt zu haben. Stanley Burns sitzt auf heißem Material, das ihn auch in Schwierigkeiten bringen könnte, doch er fährt unbeirrt fort: "Hier, auf diesem Photo wird jemand geteert und gefedert. Das nächste ist aus dem Panopticon in Kuba: 500 Häftlinge stehen, die Gitter sind offen, und nur zwei Wächter sitzen in der Mitte. Sie erschossen sie einfach. Die meisten Leute würden solche Photos vernichten, sie sind auf eine unangenehme Weise ungewöhnlich. Niemand will die negativen Aspekte festhalten - oder wie viele schlechte Photos von sich selbst haben Sie? Die werden alle zerstört oder gelöscht, und genauso sieht es mit der Geschichtsschreibung aus. Aber ab und zu finde ich diese Beweisstücke, weil jemand vergessen hat, sie zu vernichten." Aus dem Hintergrund hört man Liz Burns schreien: "Ich liebe Tatortphotos!"

Über dieses Panopticon, ein Gefängnis namens Presidio Modelo, das zwischen 1926 und 1928 unter dem Diktator Gerardo Machado erbaut wurde, gibt es eine Doku, die online leicht zu finden ist. Sie ist nicht gut gemacht, aber äußerst interessant. Es standen fünf dieser Gefängnistürme, die für 2.500 Insassen konzipiert waren, jedoch mit bis zu 8.000 überfüllt wurden. Die Zustände waren horrend. Erzählt wird auch über den "Shit Pit": eine Grube, in die sämtliche Fäkalien der Häftlinge gekommen sind, und die als - oft tödliches - Folterinstrument verwendet wurde. Nach der Revolution 1959 verwendete Fidel Castro das Gefängnis hauptsächlich für "Konterrevolutionäre" und Schwule; 1967 wurde es geschlossen.

Nach einer intensiven Zweistundenführung, die geladen war mit unglaublichen Informationen und den dazugehörigen Bildern, schreit Stanley Burns: "Kaffee, bitte!" Seine Tochter, routiniert: "Mit oder ohne Koffein?", woraufhin er antwortet: "Egal, einfach nur Kaffee. Ich habe so viel Arbeit."

Es ist Zeit zu gehen. Zum Schluß spreche ich Stanley Burns auf einen Satz an, den er einmal an anderer Stelle fallen hat lassen: nämlich, daß sich die Geschichte stets zyklisch wiederholt, da es nur zwei Generationen braucht, um sämtliche Erkenntnisse zu vergessen. Folglich werden die selben Fehler immer wieder begangen, womit jegliches "menschliche Wachstumspotential" zerstört wird. Ob er hier auch Referenzen zu gegenwärtigen Phänomenen wie Brexit, ISIS, Trump etc. sieht? "Das ist genau das gleiche, immer und immer wieder: läppische Stämme, die sich gegenseitig bekriegen. Dieselben Mechanismen, derselbe Schwachsinn. Oftmals einfach nur Dummheit.”

Danke.

aus: Rokko´s Adventures #18

Text: Rokko

Kolumnen_ Depeschen an die Provinz/Episode 42

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Du darfst ...

Gute Nachricht für alle Desorientierten und von Relikten der Vergangenheit Geplagten: Unser beliebter Motivationstrainer Peter Hiess zeigt Euch einen Ausweg. Und die erste Beratungseinheit ist noch dazu gratis!

Hast Du manchmal das Gefühl, daß dein Lebensweg strikt vorgezeichnet ist? Daß du keine Chance hast, aus den engen Mauern der Tradition auszubrechen und Dein Glück zu finden?

Du bist nicht der einzige, dem es so geht. Nur ein Beispiel: Eine meiner Klientinnen, eine attraktive Frau aus dem hintersten Hinterindien, war über ihre Lebenssituation verzweifelt. Sie wohnt seit Jahrzehnten in Wien und ist durch die Beziehung mit einem Arzt hierhergelangt, mittlerweile aber auch schon einige Zeit geschieden. Und obwohl sie ihrer Familie monatlich Unsummen Geld nach Hause schickt, traut sie sich daheim nicht zu erzählen, daß sie einen neuen Freund hat. "Bei uns läßt sich eine Frau nicht scheiden", sagt sie. "Das würde meiner Verwandtschaft das Herz brechen."

Primitive Sitten aus der Dritten Welt, wirst Du jetzt wahrscheinlich abschätzig sagen. Aber das wäre unfair. Dazu möchte ich Dir noch ein Beispiel bringen, das uns viel näher ist: Eine Dame um die vierzig. Fesch. Aus Oberösterreich. Zum Studium nach Wien gegangen und seither dageblieben. Im Gespräch stellt sich heraus, daß sie aus verschiedenen Gründen keine Pfarrer mag, die christliche Messe und die katholischen Rituale ablehnt. „Bist Du denn auch schon aus der Kirche ausgetreten?“ frage ich sie. „Nein“, sagt sie. „Ich kann nicht. Das würde sich im ganzen Dorf herumsprechen, und meine Oma wäre verzweifelt.“

Ja, um Gottes willen - um im Jargon zu bleiben -, wozu bist Du denn in die Stadt gezogen?! Noch dazu nach Wien, wo die rote Regierung einem den Kirchenaustritt so leicht macht wie sonst keinen Amtsweg und sogar noch ein Sackl Zuckerln herschenkt, wenn man dem Glauben abschwört? Was kümmert Dich denn, was draußen in der Provinz passiert und was die Leute dort über Dich denken? Abgesehen von der Erbtante vielleicht, doch zu diesem Thema sollten wir uns wahrscheinlich eine Extrasitzung ausmachen.

Was ich damit aber sagen will: Die Großstadt bietet jedem von uns - auch Dir - die Chance, mit langweiligen Gewohnheiten und Kindheitstraumata zu brechen, sie ein für allemal abzulegen, statt sich ewig und drei Tage davon quälen zu lassen. Hier kannst Du sein, was und wer Du willst, den ganzen Jammer aus Deinem Dorf oder der Kleinstadt abwerfen und Dich neu erfinden. Hier bespitzelt man Dich nicht auf Schritt und Tritt, beredet nicht jede Deiner Äußerungen oder Deine Frisur, hier mußt Du kein armseliger Drogensüchtiger werden, um Dein Außenseiterdasein durchzustehen!

In Wahrheit ist das alles ganz einfach. Nur weil Du aus einem abgelegenen Tal in den Bergen kommst, mußt du in Wien nicht im breitesten Dialekt daherreden wie ein Gscherder und brauchst auch nicht täglich Schweinsbraten zu essen, sondern kannst Dich ganz neu erfinden (und Deine Bradlpappen gegen was Schöneres eintauschen). Wenn wiederum in Deiner Heimat Andersdenkende geköpft oder aufgegessen werden, heißt das noch lange nicht, daß Du auch in Wien diese üblen Traditionen pflegen oder Deine Angetraute in Sack und Asche hüllen sollst.

Gehörst Du aber zu jenen, die alltäglich ihre Zeit mit der Lektüre sogenannter Qualitätszeitungen vergeuden ("Lügenpresse" ist übrigens ein wunderbares und wahres Wort), dann brich endlich aus dieser irren kollektiven Halluzination aus, daß an jeder Ecke Nazis lauern und wir in einem schrecklichen Patriarchat voller Rassisten und Sexisten leben. Oder daß jeder Zweite sich unbedingt geschlechtsumwandeln lassen und sich nur über seine Intimausrüstung definieren will. Schau Dich um – is jo alles ned woa (und es underhoit ned amoi)!

Das alles kannst Du hinter Dir lassen, so wie Dein unnützes Ego. Such dir ein neues oder gleich ein paar, ist doch viel spannender. Sogar wenn Du aus unserem Nachbarland kommst, kannst du davon absehen, in Deinem schrecklichen Akzent daherzuplärren oder alles besser zu wissen als die Einheimischen ...

Ach so, jössas, ich verganz gaß, Du bist ja ein Piefke. Und Piefke sind bekanntlich unbelehrbar. Also gib doch einfach den Versuch auf, Österreich schon wieder anzuschließen, und geh zurück in Deine Heimat, um dort "Leistungsträger" zu werden. Oder für Deine merkelwürdige Bundeskanzlerin in den Krieg zu ziehen; damit kennt Ihr Deutschen Euch doch aus. Wir überlegen uns einstweilen sowas ähnliches wie Hartz IV, damit Ihr uns nicht noch mehr Besserwisser schickt. Weil von denen haben wir selber mehr als genug. Q.e.d.

Depeschen aus der Provinz

Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien und zwischendurch eine Zeitlang in der Provinz. Jetzt ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Endlich.

Kolumnen_ Al Cook im EVOLVER #20

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Slide Guitar Foolin´

Der EVOLVER veröffentlicht die Kolumne, die der heimische Blues-Traditionalist Al Cook jahrelang für eine heimische Website schrieb, auf seinen Seiten neu - nicht nur, damit die Texte nicht verloren gehen, sondern weil sie so gut sind. Im folgenden Beitrag setzt Mr. Cook sein Großprojekt "komplette Diskographie" mit dem zweiten Album "Slide Guitar Foolin´" aus dem Jahre 1973 fort.

Liebe Al-Cook-Fans !

 

Nun geht es an die abenteuerliche Geschichte der nicht nur seltsamsten Platte der österreichischen Populärkultur der 60er und 70er Jahre, sondern auch um das bisher begehrteste Sammlerstück unter meinen Tonträgern.

Ich besitze ein maschingeschriebenes Protokoll vom 25. April 1974, das die genauen Umstände der Produktion aus meinem Blickwinkel beschreibt. Viel hat sich in den Jahren seither an meiner Sicht der Dinge wohl nicht geändert, aber ich fühle mich doch bemüßigt, diese LP mit dem Abstand des gereiften Blueskünstlers zu betrachten.

Wenn vitales Interesse am Originalmanuskript samt Korrektionsgekritzel besteht, bin ich gern bereit, es einzuscannen – so wie es ist. Interessant ist auch mein damaliger Flyer, der die kompletten Kritiken aus der Szene und die legendäre Seite aus der "Jazzpodium"-Aprilausgabe 1974 enthält. Das damalige Management besteht seit Ende 1974 nicht mehr, also kann man die Platte seit damals auch nicht mehr bestellen.

Das Originalmanuskript startet nach einer kurzen Einleitung mit folgenden Worten durch: "Als die breitere Öffentlichkeit mit meiner im Mai 1970 aufgenommenen Debütplatte WORKING MAN BLUES zum ersten Male mit lebendiger Bluestradition konfrontiert wurde, hatte ich mich intern bereits längst davon distanziert ..." Ich erklärte entschuldigend, daß ich auf dieser Platte nicht wirklich ich war, sondern das, was moderne Technik aus mir gemacht hatte. Ehrlich gesagt: Man kann so manches mit der Technik tun, aber wenn man einen introvertierten Live-Sänger vor ein Hi-Fi-Mikrophon in einem fast schalltoten Raum ohne Blues-Atmosphäre setzt, kann keine Superplatte daraus werden. Da ich mich abseits der Musik keinen Ton zu sagen getraute, blieb auch den Toningenieuren nichts anderes über, als ihr Mischpult nach Gewohnheitsparametern einzustellen.

 

 

Im Sommer 1973, nachdem ich bereits durch ganz Österreich bis nach Kiel in Norddeutschland getourt war, erkrankte nun auch mein Vater. Da sich mein Bruder mit ihm nicht optimal verstand, mußte ich mich zu Hause zwangsläufig um alles kümmern. Wegen Gefäßverschluß an beiden Beinen mußten diese unter dem Knie amputiert werden. Nun schob ich nach Mutter auch noch meinen Vater im Rollstuhl. Da mein damaliger Manager das ganze Booking erledigte, konnte ich mich - so gut es ging - um meinen Vater kümmern. Und weil ich sowieso nie näher als zwei Meter an eine Frau herankam, erübrigte sich die Frage, ob ich nun auch das traute Heim verlassen würde. Es war mein letztes Jahr in der Fabrik, und das Mobbing meiner mißgünstigen Arbeitskollegen steigerte sich zu offenem Haß. Man legte mir nahe, mich im Bälde nicht mehr sehen zu lassen, da ich als Künstler (oder wofür ich mich eben halte) nicht in die Arbeiterklasse passen würde. Das wußte ich sowieso, doch der Traum vom freien Künstlertum schien mir wirtschaftlich noch zu riskant - und meinen Vater würde der Schlag treffen.

Ende Oktober 1973 war es aber dann soweit. Ich schloß eine Tour durch das Land Salzburg ab und erbat mir unbezahlten oder vorgegriffenen Urlaub. Der Kommentar des Abteilungsleiters war eine simple Frage: "Wollen Sie nun Musiker oder Mechaniker sein, treffen sie eine Entscheidung!" Also faßte ich einen meiner Friß-oder-stirb Entschlüsse, aus denen es kein Zurück mehr gab. Mein One-way-Ticket in den Blues war gelöst, und der Zug fuhr ab. Mein Vater wurde käseweiß, aber ich erklärte ihm, daß ich tagsüber besser für ihn da sein könne und für mein Hobby noch Geld und Reputation bekäme. Achselzuckend akzeptierte er, und ich kannte nur mehr meine Gitarre und die Konzertsäle.

Die Sommermonate verbrachte mein Vater im Spital. Ich war jede Nacht unterwegs, spielte mir bezahlt oder unbezahlt den Hintern ab und hatte während mancher Privatparty ein billiges Magnetophongerät und ein altes Wald-und-Wiesen-Mikro zur Hand. Dazu verbrachte ich noch Nächte zu Hause und nahm pausenlos auf, als ob ich mich vor mir selbst für die mißlungene WORKING MAN BLUES entschuldigen wollte. Ich besitze aus dieser Zeit noch kilometerlanges Bandmaterial, inklusive meiner letzten Atlantis-Auftritte.

Mein Grundgedanke: Wenn ich so wie die alten Meister spielen kann, brauche ich nur die Aufnahmebedingungen der 20er und 30er Jahre herzustellen, dann müßte das auch so klingen wie damals. Ich experimentierte mit Ohrmuscheln alter Kopfhörer, die ich zu Mikrophonen zweckentfremdet hatte, spielte und sang noch in sogenannte Fahrradlampenmikros, wie sie heute von Mundharmonikaspielern verwendet werden. Das Rauschen besorgte ohnehin das minderwertige Bandmaterial, das im Laufe der Jahre hunderte Male überspielt wurde. Und siehe da, meine Gitarre klang wie von einer durchgespielten Charley-Patton-Schellack.

Das war der Beweis, den ich immer gesucht hatte. Damit wähnte ich mich auf demselben Level wie meine Vorbilder. So klang niemand, von Duane Allman bis Johnny Winter. Ich hatte dieses alte, anachronistische Flair in meinem Spiel. Meine Traumtänzerei im Mississippi der Zwanziger hatte sich endlich glaubwürdig in meinem Spiel niedergeschlagen. Mein Gesang aber schaffte es noch immer nicht ganz, aus dem Schatten meines Teen-Idols Elvis Presley zu treten. Ich schrie mich bei Konzerten zum Krüppel, um endlich meine Stimmbänder auszuleiern, und verbrachte als überzeugter Nichtraucher meine Nächte in verrauchten Kneipen, um endlich Patina auf die Kehle zu bekommen. Heute weiß ich, daß natürlich auch Reife und Erfahrung zu einer guten Bluesstimme gehören. Blues hatte ich ja seit meinen Kindertagen zum Saufüttern, daher war ich um Themen nie verlegen.

Die Fans aber, deren Zahl mit der Zeit stetig anwuchs, wollten wieder einmal ein diskophones Lebenszeichen von mir hören. So eine Platte wie WORKING MAN BLUES wollte ich auf keinen Fall mehr produzieren, und wenn ich nie mehr in meinem Leben auf runden Scheiben zu hören wäre, schon gar nicht mit Popmusikern als Begleitung. Amadeo Records wollte mir fertige Playbacks liefern, auf denen rennomierte Musiker zu hören waren. Ich sollte durch Vermittlung geeigneter Stellen in England mit meinem "Spezi" Eric Clapton jammen. Ich weiß nicht, was er dazu gesagt hätte, aber wahrscheinlich hätte auch Clapton eingesehen, daß unsere Auffassungen von Blueskunst 50 Jahre auseinanderlagen.

 

So kam es eines Tages, daß mich mein Manager und neuer Produzent zu Hause besuchte, während ich ein Band mit meinen Aufnahmen laufen hatte. Offenbar erweckten die Klänge aus der Mottenkiste der Bluesgeschichte seine Aufmerksamkeit. Kurz entschlossen meinte er, daß wir diese Musik auf Platte verewigen sollten.

Solchen Irrsinn fand nicht einmal ein Freak wie ich realisierbar, aber why not ... es gab sowieso nichts zu verlieren, außer daß ich im ORF noch weniger Airplay bekommen würde, als ich ohnehin schon gewohnt war.

Wenn es nichts kostet, kann man´s ja riskieren. Wir suchten gemeinsam nach brauchbaren Nummern, die direkt von einem billigen Kassettenrecorder mittels eines selbstgelöteten Spezialkabels in die Studiokonsole gespielt wurden. Mit damals noch unausgereiften Pseudo-Stereo-Prozessoren wurde dem trockenen Zeug ein wenig Leben eingehaucht, und schon war alles auf Platte. Man suchte bewußt nur Slide-Guitar-Instrumentals aus, um die in der Popularisierung begriffene Bottleneck-Welle auszunützen. Ohne eine Gesangsnummer ging es aber doch nicht, weil ich gegen die Tatsache protestierte, daß man mich wieder nur als Gitarrist mißinterpretieren würde. Der Blues lebt aber von der Thematik des Textes - und so kam noch "Lonesome Blues" als einzige Gesangsnummer dazu. Ich war zu zwei Dritteln Sänger mit einer Botschaft und kein Gitarrenfreak.

1972 schloß der heute nur mehr wenigen bekannte Progressivclub Electronic seine Pforten. Wieder einmal war ein Klub an den widrigen Umständen österreichischer Kulturpolitik zerbrochen. Doch wo der Tod ist, regt sich auch wieder Leben. Aus den Trümmern des legendären Storyville Jazzclubs und dem Engagement von Axel Melhardt, der Jazzikone Wiens, entstand das Jazzland, auf das wir auch international sehr stolz sein können.

Die letzte Veranstaltung, mit der sich der Club Electronic verabschiedete, wurde mit hauseigener Studioanlage aufgenommen. Das Fernsehen berichtete, und ich machte eine gar nicht so schlechte Figur im Heimkino. Die drei Tage des Kondors und dessen Absturz wurden dokumentiert; zum Andenken bekam ich drei Bandspulen mit "Al Cook in Concert". Bis zur Räumung der Lokalitäten setzte ich mich noch einmal vors Mikro und nahm ein paar Nummern auf, und dann ging’s ab nach Hause.

Zu dieser Zeit lernte ich Hans Maitner - den Förderer des Blues, wie er sich zu nennen pflegt - auf seltsame Weise kennen. Ich wurde von der Werkbank ins Meisterkabäuschen gerufen, in Erwartung eines Anpfiffs, aber man übergab mir den Telefonhörer. Da meldete sich eine enthusiastische Stimme mit dem Namen Maitner. Ich verstand aber Mautner und wunderte mich, daß mein Produzent plötzlich eine so hohe Stimme hat. Mr. Maitner meinte, daß ich mit Abstand besser sei als die britischen "Nasenbohrer" (ein Lieblingsausdruck von Hans) und er mich unverzüglich treffen müßte. Damit lernte ich neben Johnny Parth auch noch die zweite Säule der heimischen Bluesszene kennen.

Hans betrieb als Nebentätigkeit eine informative Bluessendung im ORF, die jeder als "Living Blues" noch im Ohr hat. Zu Hause stellte er mir einen schmalen 18jährigen Jüngling namens Martin Pyrker vor, der fantastisch Boogie-Woogie-Piano spielen konnte. Endlich einer, der live die alten Meister interpretieren konnte und keinen Schmarren à la Floyd Cramer produzierte! Ich engagierte Martin zu seiner ersten Plattenaufnahme. Viele glauben, er sei erst durch die "Vienna Boogie Session" entdeckt worden, doch zuvor war er noch Begleitpianist bei meiner legendären Bellaphon-Session, die den "Loneliest Man In Town" hervorbrachte. Martin Pyrker und ich nahmen ein Piano-Guitar-Duett auf, aber der Produzent entschied, daß als Schlußgag der Platte ein abgebrochener Take des "Carinthian Street Boogie" verwendet werden sollte. Deutlich hört man mich auswinken: "Halt, halt, jetzt haben wir´s verhaut!" Was daran so lustig war, weiß ich bis heute nicht, aber dieser Take ist in die Geschichte eingegangen.

 

 

Anfang der 70er gab es ein Mini-Woodstock nach dem anderen, und bei einer Veranstaltung in Klosterneuburg war ich als Haupt-Act engagiert. Damals waren die jungen Musiker noch stolz, mit Al Cook zu jammen, also spielte ich mit einer eigenartig zusammengewürfelten Partie, zu der neben Theo Bina, dem Studiogitarristen der damaligen Austropop-Szene, noch ein Teufelsgeiger namens Rudi Berger gehörte. Rudi ist heute ein renommierter Jazzmusiker, der beim Vienna Art Orchester mitmachte und jahrelang in Amerika war.

Ich war immer von Charley Patton und dessen Zusammenspiel mit dem Fiddler Henry Sims begeistert, fand aber nie einen geeigneten Mann für eine solche Nummer. Ich fragte Rudi also, ob er mir bei einer Country-Blues-Nummer auf der Fiedel assistieren wolle. Der 15jährige war natürlich hellauf begeistert und machte mit. Nach einer kurzen Zeit des Lampenfiebers war der "Charley Patton Blues" im Kasten. Auch beim "Loneliest Man In Town" solierte Rudi Berger, wohl sparsam, aber gekonnt. Doch das ist Thema der nächsten LP.

Die Platte war fertig, und ich suchte nach einem schlagkräftigen Titel. Ich nannte sie schlußendlich SLIDE GUITAR FOOLIN´, weil "foolin´ ´round the strings" soviel bedeutete wie "ein wenig mit der Materie spielerisch experimentieren".

Die tontechnischen Probleme beschränkten sich auf die Entfernung des abnormen Bandrauschpegels, der dadurch entstand, daß man die Aufnahmen von 4,75 cms mono auf 76cms stereo aufblasen mußte. Mit Equalizern und dezenter Raumsimulation brachte man schließlich ein halbwegs hörenswertes Endprodukt zustande, aber von digitalem Remastering war man damals noch weit entfernt.

Mit der Masterplatte in den Händen begann das Problem der Cover-Herstellung und natürlich des Vertriebs. Die erste Frage lösten wir auf eine Weise, die der SLIDE GUITAR FOOLIN´ ihren Platz in der österreichischen Tonträgergeschichte sicherte. Das Label war graphisch etwas lieblos gestaltet, aber es trug die Bezeichnung Bomb L1. Diese Platte sollte wie eine Bombe einschlagen.

Geld für Graphiker und Coverdesigner war nicht vorhanden, also kam mein Produzent auf die Idee, Wellpappenabfall auf LP-Format zusammenzuschneiden, den Text auf Packpapier zu drucken und damit die Kartonhälften zusammenzukleben.

Die erste Auflage betrug 300 Stück, die von mir fein säuberlich numeriert und mit einem Autogramm versehen an alle möglichen, uns wichtig erscheinenden Leute verschickt wurden. Hans Maitner bekam sogar das einzige Exemplar, das auf dem Label den Abdruck meines linken kleinen Fingers hatte. Heute zahlt man für die numerierten Exemplare bereits an die 3000 Schilling. Unter 1000 Schilling ist keine mehr zu bekommen.

SLIDE GUITAR FOOLIN´ schlug tatsächlich ein wie eine Bombe. Dadurch, daß das Cover kein Bild von mir enthielt, glaubte man an einen ausgegrabenen Schwarzen, der die alten Tage des Blues noch erlebt haben muß. Fairerweise enthielt die LP eine Höranleitung für Unbedarfte, die sich erst an den Sound gewöhnen mußten. Darin stand, daß es eine heimische Produktion war.

Außer ein oder zwei unbedeutenden negativen Kritiken von bundesdeutschen Musikprofessoren überschlug sich die Fachpresse in Superlativen. Das "Jazzpodium" widmete mir in der April-Ausgabe 1974 eine ganze Seite, und zahlreiche Journalisten aller Genres lobten mich als den damals besten Bluesinterpreten weißer Hautfarbe. Eine deutsche Zeitung nannte mich sogar "The White King Of Black Blues" - einen Ehrentitel, den ich seither als Offensivslogan verwende. Umgehend bestellten sogar ausländische Händler gleich 500 Stück und mehr - ganz schön viel, wenn man bedenkt, daß 1000 Stück in dieser Displin einen Hit bedeuten. Viele sagen noch heute, daß das meine künstlerisch beste Platte gewesen ist, und ich wurde noch vor wenigen Jahren auf eine zweite Auflage angesprochen. Doch SLIDE GUITAR FOOLIN´ ist ein Unikat, das durch eine identische Neuauflage nur an Nimbus verlieren würde.

Nachdem die Plattenfirma Bellaphon als Vertrieb gewonnen werden konnte, wurde ein Präsentationstermin festgesetzt.

Plattenpräsentationen sind immer eine heikle Sache und tragen zum Image des Künstlers entscheidend bei. Damals im November 1973 klebten wir noch ein paar Covers zusammen, und ein winziger Laden in der Wiener Erdbergstraße wurde eilig drapiert. Es waren wie immer keine namhaften Journalisten da. Bloß Michael Schrott von der Ö3-Jugendredaktion machte ein Interview. Gegen die Präsentationen, die meine Frau später auf die Beine stellen sollte, war das ein mickriger Zirkus. Leute, die von der Straße hereinkamen, kramten in den Plattenregalen und merkten nicht, daß hier eigentlich ein Produkt vorgeführt wurde, an dem sich später die halbe Bluesszene orientieren sollte. Ich war total sauer, aber ich machte meinem Manager zuliebe den freundlichen Mann.

Doch Ö3 war noch nicht der megacoole Roscic-Schuppen, und man setzte die Platte ein, wo es ging. Ich wurde somit zur unumstrittenen Nummer 1 der Szene. Sogar Walter Richard Langer, der superkritische Moderator von "Vokal, Instrumental, International" war von SLIDE GUITAR FOOLIN´ sehr angetan. Ich hatte faktisch alle Musikfreunde, die auch nur ein wenig Gefühl für ehrliche Musik aufbrachten, auf meiner Seite.

 

 

Mein Leben änderte sich aber am 13. Juli 1974 mit einem Schlag. Ich lernte meine erste Weggefährtin kennen und war mit einem Schlag kein einsamer Wolf mehr. Ihr war es zu verdanken, daß ich mich von einem selbstmörderischen Management-Vertrag befreien konnte. Ich schwor mir zu dieser Zeit, mich fortan nie wieder geschäftlich an jemanden zu binden, denn neben der Gesundheit ist die Freiheit das höchste Gut.

Von SLIDE GUITAR FOOLIN´ sah ich keinen Groschen. Ich habe auch seit dieser Zeit das Veröffentlichen von Tonträgern eher als akustische Präsenz verstanden.

Nun konnte ich mich dem nächsten Projekt zuwenden.

Gunther Zitta, der Chef von Bellaphon Records, war nun mein neuer Produzent - und ich krempelte mir die Ärmel für ein neues Opus auf. Zuerst aber will ich in der nächsten Folge wieder die einzelnen Cuts von SLIDE GUITAR FOOLIN´ beschreiben. Diesmal gibt es nur eine gesungene Nummer.

 

Also, bis nächstes Mal, euer 

Al Cook im EVOLVER

Unverfälscht, traditionsbewußt und weitab vom Kommerz-, Radio- und Social-Media-Mainstream: So wie Al Cook Musik macht, schreibt er auch - und zwar exklusiv im EVOLVER. Lesen Sie hier seine sehr persönliche Einführung in die Welt des authentischen Blues-Genres und Cooks Position im populärkulturellen Musikgeschehen.

Kino_ Film-Tips November & Dezember 2020

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Dahoam ist dahoam?

Werden Sie heuer, in Zeiten des großen Corona-Betrugs, noch ein Kino betreten dürfen? Das wissen nur die Götter und Bill Gates. Hans Langsteiner verrät ihnen trotzdem, wofür sich der Ausflug lohnen würde. Und Peter Hiess berichtet fachgerecht über Couch-Alternativen.

Greenland

"Greenland" - schon der Titel weckt Horrorvisionen von einem Land, das von Grünen regiert wird und in dem erneuerbare Energien das Volk in die Armut treiben. Aber nein, in dieser Hollywood-Produktion geht es nicht um die ganz normale Dystopie, in der wir heute alle mitspielen, sondern um einen typischen Katastrophenfilm, der die großen Vorbilder aus den 70ern Jahren nicht einholen kann (was auch keiner erwartet hat). Aber immerhin fand sich ein pickliges, ahnungsloses Bubi in der "Presse", das dem B-Streifen Wahlwerbung für Trump unterstellte und ihn mit der typischen Arroganz der Dummlinken als "pures Kernfamilien-Durchhaltekino" diffamierte. Angesichts der Beflegelungen durch solche Kreaturen, die in der Schule sicher zu Recht dauernd Watschen kassiert haben, muß man "Greenland" direkt gern haben ...

Weil darin immerhin der Komet kommt und möglicherweise auch L. A. treffen wird. Was im Großen und Ganzen wurscht wäre, wenn nicht der Mob sofort plündern und sich um einen Platz im Evakuierungsflugzeug prügeln würde. (Heute hat der Mob noch anderes zu tun: Er beflegelt andere auf der Straße, wenn sie DIE MASKE nicht richtig aufhaben, und vernadert "Gefährder" in den sozialen Medien.) Aber zurück zum Kinofilm - schließlich wird es solche wie ihn in Ermangelung von Kinos nicht mehr lang geben: Gerald Butler spielt filmkatastrophengeeicht die Hauptrolle, einen Architekten, der seine Familie in Sicherheit bringen will. Und die wartet in Grönland, wo sich die wenigen Auserwählten samt dem Saatgut dieser Erde einbunkern dürfen. Nichts Neues also aus Weltuntergangs-Country. Regisseur Ric Roman Waugh macht seine Arbeit ebenso routiniert wie seine Schauspieler, die Effekte sind ansehnlich, und es gibt wahrlich Schlimmeres als diese unterhaltsamen zwei Stunden. Außer, man faselt Filmkritiken für die "Presse" daher, statt sich endlich eine Freundin zu suchen.  (ph)

 

 

Never Rarely Sometimes Always


(Niemals Selten Manchmal Immer)

Eine siebzehnjährige Supermarktkassiererin aus der amerikanischen Provinz auf dem Weg in eine New Yorker Abtreibungsklinik - das klingt nicht gerade nach dem Stoff, aus dem Blockbuster gemacht sind.  Blockbuster ist das auch keiner, sehr wohl aber ein ungemein genauer, fast zärtlicher Film, der einem so richtig "zuwesteigt" (für Nichtwiener: nahegeht). Wenn die ungewollt Schwangere mit ihrer etwas älteren Cousine per Bus und Zug ins ferne New York aufbricht, dann stimmt einfach jedes Detail, jede noch so kleine Nebenfigur. Dabei werden Klischees geschickt vermieden: Der junge Karakoke-Sänger, der die beiden im Zug anspricht, ist eben nicht (nur) der schleimige Anbrater, den man zunächst in ihm vermutet, und die Psychologin in der Klinik agiert nicht routinemäßig kalt, sondern empathisch und klug. Überhaupt ist die (titelgebende) Beratungsszene, in der die Schwangere nach ihren Sex-Erfahrungen befragt wird und dabei zwischen vier Antwortmöglichkeiten wählen kann, einer der Höhepunkte nicht nur dieses Films, sondern des Kinojahrs 2020. Die Kamera bleibt die gesamte Plansequenz über auf dem Gesicht der jungen Frau (Sidney Flanigan, den Namen sollte man sich wirklich merken), in dem sich die widersprüchlichsten Emotionen abzeichnen wie auf einem Photo im Entwicklerbad. Man hält den Atem an.  (HL)

 

 

Penny Dreadful: City of Angels

"Penny Dreadful" war eine wirklich unglaublich gute Serie, die viele Themen der Schauerliteratur (Frankenstein, Dr. Jekyll & Mr. Hyde, Vampire, Hexen usw. usf.) auf ebenso hintelligente wie unterhaltsame Art, visuell eindrucksvoll und mit hervorragenden Schauspielern und -innen zu verarbeiten verstand. Und leider ... als es am schönsten war, stellte man das Wunderwerk nach nur drei Staffeln und insgesamt 27 Episoden ein. Da die Serienwelt seit damals von einem generellen Qualitätsschwund erfaßt ist, stand zu hoffen, daß sich die Verantwortlichen irgendwann doch zu einer Fortsetzung hinreißen lassen würden. Aber nein - ein Spinoff muß es sein, noch dazu eines, das im Los Angeles der 30er Jahre spielt. Die Fixierung auf die Stadt der verlorenen Engel zeugt nicht nur von der Faulheit und dem Geiz der Produzenten ("Wenigstens müssen wir nicht weit reisen und/oder teure Kulissen bauen"), sondern auch von der unerträglichen Selbstverliebtheit Hollywoods. Und das Ergebnis, "Penny Dreadful: City of Angels" belegt das leider auch trefflich. Mexikanische Gottheiten (Santa Muerte) und Dämonen, der allzu platte Kampf zwischen Gut und Böse, rassische Spannungen (gähn!) und natürlich böse Nazi-Spione (schnarch!) verspielen das Potential dieses Serienablegers, der zwar gute Momente und Handlungsstränge hat, wie die zweite Staffel von "The Terror" zugunsten politischer Korrektheit und zeitgeistiger Anspielungen auf die USA unter Trump aber leider doch ziemlich danebenhaut ...  (ph)

 

 

Kajillionaire

Der Titel, um das gleich vorwegzunehmen, bedeutet nicht etwa so viel wie Dagobert Ducks berühmte Fantastillarden in der genialen Erika-Fuchs-Eindeutschung, sondern einfach eine nicht näher definierte größere Summe. Hinter der ist hier ein skurriles Gaunertrio aus Los Angeles her: ein ältliches Paar mit seiner autistisch verschlossenen Tochter. Wohnhaft sind sie im Keller einer Seifenfabrik, der so undicht ist, daß die Mieter in regelmäßigen Abständen den eindringenden Schaum entsorgen müssen. Um die rückständige Miete abzustottern, unternimmt das bizarre Trio nicht minder bizarre Trickbetrügereien und abstruse Einbrüche (etwa in Postbrieffächer), von denen der Film eine Zeitlang ganz gut lebt. Leider beginnt die (unübersehbar an den Arthaus-Hit "Parasites" angelehnte) Groteske etwa ab der Filmhälfte zu menscheln. Das Trio lernt eine warmherzige Berufskollegin kennen und erweitert sich zum Quartett, Beziehungen deuten sich an, alles wird ein bißchen tranig und bieder und mündet schließlich in einen lesbischen Liebeskuß im Supermarkt. Schade, es hätte ein so herrlich verrückter Spaß werden können. So aber siegt, um es auf deutsche Comedians herunterzubrechen, Mike Krüger über Helge Schneider.  (HL)     

 

 

X-Files - Complete

Wir leben in einer ganz schön seltsamen Welt: Da halten sich die Unfähigen und Nutzlosen plötzlich für Helden, weil sie wegen einer großteils harmlosen Krankheit daheim herumsitzen und damit "Menschenleben retten". Da starren einen von den (asozialen) Medien aufgehetzte Dummköpfe vorwurfsvoll aus eng zusammenstehenden Augen über ihre selbstgehäkelte Maske – die den Rest ihrer stumpfsinnigen Visage gottlob verdeckt - hinweg an, weil man es wagt, abends unmaskiert und allein im Freien unterwegs zu sein. Da treten angebliche Linke auf einmal für eine stetige Verschärfung der Diktatur ein, für Ausgangs- und Kontaktsperren, für die endlose Quarantäne für Impfunwillige, die am besten gleich ins Lager gehören. Und wenn Corona einmal vorbei sein wird, dann kommt entweder gleich die nächste Pseudo-Pandemie oder man verfolgt als "fortschrittlicher" Ewig-Vorgestriger die Agenda des "Great Reset" (die große Zurücksetzung …): Bargeld-Abschaffung, kein Besitz mehr, keine Autos mehr (weil das mit den Elektrokübeln halt doch nicht funktionieren wird), keine Flugreisen mehr, kein Privatleben mehr - wie sich verkappte Stalinisten die Welt halt vorstellen …

Und wer steckt dahinter? Richtig: die große Verschwörung. Die hat (wahrscheinlich) nichts mit Aliens zu tun, ist aber doch ein Anlaß, sich während des "Es wird sicher keinen zweiten Lockdown geben"-Lockdowns die Serie "Akte X" noch einmal anzusehen. Im Original, auf den DVDs, die auf ihren mittlerweile dritten Einsatz nur gewartet haben. Die elf Staffeln und zwei Kinofilme umfassende Saga der FBI-Agenten Fox Mulder und Dana Scully, die Fälle voller "extreme possibilities" bearbeiten, hat ihre Höhen und Tiefen, sowohl in den "Monster of the week"-Episoden als auch in der immer wirrer werdenden Conspiracy-Geschichte. Die letzten zwei Staffeln (und vielleicht auch schon so manches vorher) hätte man sich, wenn die Erinnerung des "X-Files"-Fans ihn nicht trügt, eventuell auch sparen können, zumindest zum Großteil - aber insgesamt bringt diese Unternehmung doch viel Positives mit sich. Vor allem im Hinbiick darauf, daß nicht einmal Mulder und Scully vorausahnen hätte können, wie skrupellos und verbrecherisch die Behörden, Geheimdienste und wahren Beherrscher der Welt wirklich einmal agieren würden. Immerhin haben sie - und der heimliche Held der Serie, Cancer Man alias "der Raucher" - damals schon gewußt, daß man Menschen mit Angst am besten manipulieren kann. Und natürlich mit Hilfe von völlig gleichgeschaltenen Massenmedien und den üblichen nützlichen Idioten. "Trust no one" heißt die Devise. Aber daß sich eine Neubetrachtung dieser Serie unbedingt lohnt, das können Sie uns trotzdem glauben.  (ph)

 

 

Kolumnen_ Kolumnen, die die Welt nicht braucht #54

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Ulysses versus Bonanza


Einsames Aufräumen ist das gemeinschaftliche Feiern unserer Zeit. Entsprechend miste auch ich ununterbrochen aus - Medien zum Beispiel, weil die sowieso verzichtbar sind. Vor allem Bücher werden völlig überschätzt.

Eigentlich brauchen Sie nicht mehr als diese Kolumne, um irgendwas Irrelevantes zu erfahren oder sich über etwas noch Irrelevanteres aufregen zu können - was ja die beiden einzigen Dinge sind, die Medien leisten können. Zwar glauben Sie das jetzt einfach nicht, weil Ihnen das bisher noch keiner in dieser Ehrlichkeit gesagt hat; doch beides hat sich ja bereits im Verlauf dieses Absatzes geändert. So gewandelt, lesen Sie diese Kolumne ab hier als anderer Mensch weiter. Mission accomplished, mehr kann keine Kolumne leisten. Und diese hier ist heute aus gegebenen Anlaß auch mal ernsthaft.

Wie ich da also neulich so aufräume, fallen mir allerlei Bücher in die Hände. Jedes Buch von Palahniuk, der fast komplette Auster, beinahe alles von Murakami. Jedes beinahe ungelesen, weil ich bei allen dreien (und vielen anderen) den Fehler machte, erst zufällig ein, zwei lesenswerte Bücher zu lesen - nur um danach blind einfach alle Bücher des jeweiligen Autors zu kaufen (aber nicht zu lesen, weil schon das jeweils dritte fad war).

Ich gebe es zu: Seit Jahren langweilen mich die meisten Bücher. Es fällt mir zunehmend schwer, etwas zu finden, was mich über Seite 23 hinaus begeistert (Ausnahme bei Stephen King: über Seite 723 hinaus). Und wenn ich mal sowas finde, dann schaffe ich sofort alle Bücher des gleichen Autors an. Vielleicht aus der paranoid gesehen gut begründbaren Angst heraus, ein anderer Leser könnte sie mir wegkaufen.

 

Je mehr ich darüber nachdenke, desto irrer erscheint mir im Rückblick mein Buchkonsum. Als Beispiel dafür kann Ulysses von James Joyce dienen. Im zarten Alter von um die 20 erwarb ich das Ding, und das weiß ich, weil ich damals noch das Datum des Erwerbs im Buch selbst notierte. Stolz, als hätte ich einen zwei Meter langen Piranha geangelt. Dabei hatte ich nur ein Buch gekauft.

Ich weiß allerdings nicht mehr, was mich damals, vor 30 Jahren, zu diesem Kauf getrieben hat. Vielleicht fand ich beim hobbymäßigen Übersetzen von Finnegans Wake dessen Plot so packend, daß ich sofort losgezogen bin, als nächstes den Ulysses an einem Tag zu bezwingen. Vielleicht auch nicht. Und wie ich da also unlängst so aufräume, fällt mir eben der genannte Ulysses in die Hände. Die Wollschläger-Übersetzung bei Suhrkamp, lila, im Pappschuber.

"Bad decisions make good plots", lautet eine imho ziemlich dümmliche Autorenweisheit. Wahr ist daran, daß Protagonisten schwierige Entscheidungen fällen müssen. Ich zum Beispiel diese: Ulysses wegschmeißen - oder nicht? Ins Altpapier oder zurück ins überquellende Regal, zur (geplanten) Auslese nur jener wirklich wichtigen Bücher, mit denen ich ... ja, was eigentlich ... nun, vielleicht: mit denen ich alt werden möchte? Die noch im Regal stehen sollen, wenn man mich - die Füße voran - aus der Wohnung trägt? Die beim nächsten Umzug umzuziehen sich wirklich "lohnt"?

Also: Wegschmeißen oder nicht?

An dieser Entscheidung erkennt man sofort den Unterschied zwischen wilder Jugend (= den Ulysses kaufen, der Unlesbarkeit des Werks kühn die Stirn bietend, Platz im Regal habend) und milder Altersweisheit (= Weltliteratur wegschmeißen, der angeblichen Unwegschmeißbarkeit des Werks kühn die Stirn bietend, im Regel Platz schaffend, für Souvenir-Nippes).

 

Zufälligerweise, und ich erwähne das nur kurz am Ende, weil es in dieser Kolumne von immenser Wichtigkeit ist, quasi der Kern, entschieden sich meine Frau, die beste Ehefrau von allen, und ich noch am gleichen Tage, eine Folge Bonanza anzuschauen.

Das war zwar schlimmstes Gutmenschenkonzentrat, moralinsaurer als ein Fluor-Antimonsäure-Cocktail mit einem Spritzer Zitrone. Aber dennoch lustiger als jener Tag in Dublin.

Also ab in die Tonne mit James Joyce. Und Sie dürfen mich nun gerne Barbar nennen; mein Griechisch kommt ohnehin nicht über das in der Gastronomie als Gast Notwendige hinaus – und schon als Kind war mir Ursus (im Film) näher als Odysseus (im Buch). Aber, und das wird Sie hoffentlich trösten: Am Ende würde ich auch die Cartwrights rauswerfen. Alle miteinander. Nur Hop Sing dürfte bleiben.

 

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Zum dieskolumnigen Bilderrätsel:

 

"Welche Maske schützt wirklich?"

Kolumnen_ Fundamentalteilchen 15/415: Der vermaledeite Brummschädel

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Das ewige Kommen und Gehen


Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 15. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ava Vegas.

Ich schlief in dieser Nacht ziemlich fest, wachte aber mit einem Brummschädel auf, wie man ihn normalerweise höchstens bekommt, wenn man Jim Beam aus dem randvollen Basketballstiefel von Dirk Nowitzki getrunken hat. An einen solchen Exzeß konnte ich mich aber nicht erinnern, was ebenfalls mit dem Brummschädel zu tun haben könnte. Ich zapfte mir daher einen Espresso, fügte reichlich Zitrone und Zucker hinzu, trank das Gebräu und wartete, bis die Kopfschmerzen nachließen.

Irgendwann fiel mir wieder - erst in Bruchstücken, dann in zusammenhängenden Trivialplatten - ein, wie der Abend verlaufen war. Ich fügte also das Gedächtnispuzzle zusammen: Ich war mit Hannes, dem Wirt des "A Thousand Miles to Dublin", dessen Freundin Jenny, mit Nina, Rebekka und Horst bei Herrn Lesch in der Sternwarte. Wir schauten auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest und stießen darauf mit irischem Bier an. Dabei wurde uns immer dann melancholisch zumute, wenn wir an Verflossenes dachten. Ansonsten staunten wir Bauklötze, aus denen wir Gedankengebäude errichteten und diese dann - nach Fertigstellung - wieder einstürzen ließen. Das wäre übrigens, meinte Rebekka, genau das, was Buddhisten mit ihren kunstfertigen Mandalas zu tun pflegen: erst viel Arbeit, Geduld und vielleicht auch Spucke investieren und danach alles wieder zu Bruch hauen. Mich würde das eher an die unheilige Dreieinigkeit von Stadtentwicklung, Krieg und Wiederaufbau erinnern, gab ich zu bedenken.

 

Aber Rebekka, die so schlau ist, daß sie sogar mit auf dem Rücken gebundenen Armen auf Milch schwimmen würde, schaute versonnen in den Milky Way, den Herr Lesch uns offerierte und sagte dann: "Du verstehst wieder mal nur die Hälfte. Die Mönche machen das, weil sie wissen, daß alles auf der Welt ..."

"... ein Ende hat? Außer der Wurst natürlich?" fragte Horst, der sich nun doch an unserem Abend beteiligte.

"Irgendwie schon, Dösbaddel", entgegnete Rebekka, um seelenruhig erst ein Kilkenny zu köpfen, uns zuzuprosten und dann im Schneidersitz fortzufahren:

"Ihre Mandalas sind wie das Leben: Aus vielen Sandkörnern wird Neues geschaffen und wieder verworfen, um daraus wieder Neues zu schaffen. Neues, das immer anders als das Vergangene ist."

"Was man aus Sand alles machen kann", murmelte ich, und Horst ergänzte:

"Deine Spuren im Sand, die ich gestern noch fand, hat der Mönch fortgenommen."

Wir lachten - und Herr Lesch klärte uns darüber auf, daß die Buddhisten 31 Ebenen der Existenz kennen würden. Das Leben und den ganzen Rest hatten sie also schon mal definiert, staunte ich.

"Aber wie sieht das mit dem Universum aus?" fragte ich ihn.

"Das kennen sie auch. Es ist für sie ein unendlicher Vorgang des Werdens und Vergehens", meinte er.

Irgendwie wie bei Rebekkas sandiger Geschichte.

 

 

"Vielleicht ist das Sternengebilde da über uns auch eine Art Mandala, an dem ein Mönch gerade arbeitet", sagte ich.

"Und wenn er fertig ist, verwischt er das Ganze und schafft sich ein neues Universum", seufzte Horst.

"Gut möglich", meinte Herr Lesch und verwies auf die Bierflasche in seiner Hand. "Wenn ich das Kilkenny hier geleert habe, wird das Gefäß einfach wieder aufgefüllt. Das nennt man dann, frei nach Platon, die metaphysische Ebene."

"Oder die Mehrwegebene des Pfandsystems, frei nach Coca-Cola. Denn die haben das 1928 erfunden", sagte Hannes, der Wirt unseres Vertrauens, und sammelte die leeren Flaschen wieder ein. Wie gut es doch ist, daß Hannes vor dem Einschlafen immer wieder den Geschichts-Podcast "Zeitsprung" hört. Das bildet, bildet er sich zurecht ein.

Mir war das alles etwas zu metaphysisch, metaphorisch oder sonst irgendwie meta. Rebekka erklärte uns die Ebenen dann so, daß auch Begriffsstutzige wie ich schlauer wurden und bezog deshalb praktischerweise auch Horsts Verflossene in ihre Ausführungen ein. Damit konnte ich dann natürlich auch etwas anfangen, zumindest hatte ich das, was sie sagte, so verstanden: Meine Ex weilt mittlerweile auf einem weit entfernten anderen Planeten, was irgendeiner Ebene zwischen 28 und 31 entspricht - also einer "Ebene der Formlosigkeit". Zumindest für mich, der ich keine Vorstellung davon hatte, wie es dort, wo sie sich aufhielt, aussehen mochte, transzendierte sie ins Amorphe. Für sie sah das vermutlich anders, ja, behaglich aus: Vielleicht gingen jeden Morgen vier wunderbare Sonnen über einem türkisfarbenen Meer auf? Keine Ahnung. Mir bleibt also das Saṃvartasthāyikalpa, was einem leeren Universum entspricht.

 

 

Ich könnte hergehen und es mit Planeten erfüllen, wo jeden Tag in der Früh vier wunderbare Sonnen über einem türkisfarbenen Ozean aufgingen und ihr Tagwerk verrichteten. Das wäre möglich, wenn auch etwas kitschig. Doof ist in diesem Zusammenhang nur, daß ich kein Buddhist bin und vor allem bis zum heutigen Tag durch meine christliche Erziehung beeinflußt werde. Diese Prägung hat zumindest dazu geführt, daß ich seit ungefähr meinem 14. Lebensjahr keine Selbstbefleckung mehr geübt habe. Die Hände blieben immer schön über der Decke. Also mußte ich mir jetzt einfach über das an diesem Abend Gehörte den Kopf zerbrechen. Daß der dann weh tun würde, war unvermeidlich.

Wie die Quintessenz aussieht? Es ist ein Kommen und Gehen allüberall. Mal sieht man goldene Sterne blitzen, mal den Staub auf der Kommode sitzen. Und alles wird immer wieder von irgendwem weggewischt. Beim nächsten Blick in den Nachthimmel wird sich ein anderes Bild ergeben, und der Staub auf dem Möbel wird nächste Woche auch nicht derselbe sein. Oder so: "Es wird ein Wein sein, und wir werden nimmer mehr sein. Aber auch der Wein wird nicht mehr sein, was er ist."

Ich erinnerte mich an die letzten Worte, die ich Horst mit auf den Weg gegeben hatte, und hatte mit "Mein Mann" von Ava Vegas den Song dazu im Ohr. "Wenn du Ilona irgendwann wiedersehen wirst, wirst du die Frau erkennen, die du geliebt hast. Aber sie wird dir auch fremd sein."

"Soll mich das jetzt trösten?" fragte er.

"Nö," sagte ich und schickte ihm den Link zum Lied von Ava Vegas.

Dann wischte ich die Gedanken weg, zapfte noch einen Espresso und baute mir einen neuen Tag.

 

Manfred Prescher - Es war nicht alles schlecht: Best of Miststück


Kolumnen 2005 bis 2020


Kolumnen_ Kolumnen, die die Welt nicht braucht #55

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Aussterben, Toxoplasma gondii & Coronuminatus!


Das Ende war verführerisch nah, aber leider geht die Welt schon wieder nicht unter. Irgendwie mindestens teilbedauerlich. Eine Bestandsaufnahme mit tagebuchartigen Einsprengseln und völlig unbegründeten Hawaii-Erwähnungen.

Ich reiche hiermit, wie irgendwann vage angekündigt und kaum nachgefragt, meine Corona-Tagebuch-Kolumne nach, allerdings nur in zensierten Fragmenten, ohne die wirklich bösartigen Stellen, dafür aber einschließlich aller allzu erwartbaren Gags wie diesem hier:

 

"Tag 23. Meine Prepper-Vorräte gehen zur Neige, und mir ist schlecht von all der Büchsenbohnensuppe. Gottseidank habe ich noch Klopapier."


Apropos: Ich habe mir schon überlegt, ob ich mich damit einfach selbst einwickeln und ein Mumien-Selfie-Movie drehen soll. Hashtag #MyCoronaMovie. (Ich erfinde das ja nur, denn uns Kolumnisten ist Recherche bekanntlich fremd, aber: Gibt´s bestimmt schon.)

Ich verstehe übrigens all die Leute nicht, die unsere globale Pandemie (endlich ein gemeinsames Projekt!) bejammern und nur die Krise sehen, statt zum Beispiel die Chance - etwa jene, genau solche Phrasen zu dreschen und in Form von Instagram-Spruchbildern zu veröffentlichen, ohne daß, und das muß ich aus Ihnen kurz danach sicher einleuchtenden Gründen ausnahmsweise einmal gendern, eine*m  eine*r eine*n runterhauen kann, was ja nur ein Segen des Social Distancing ist. (Anm. d. Textchefs.: Installieren Sie sich das hervorragende Browser-Add-on "Binnen-I be gone"! Wie ich gerade bemerkt habe, beseitigt die auch Gender-Deppensterne - wodurch der vorangegangene Gag aber ziemlich in die Hose geht. Harhar. )

Aber zurück zur Corona-Tagebuch-Kolumne, die ich nicht veröffentlicht habe, weil ich mir schon irgendwie ein wenig Sorgen machte, ob ich damit jemanden vor den Kopf stoßen könnte. Es gibt ja heute immer irgendwen, der sich ungenügend bejubelt fühlt und einen dann wegmobbt.

 

"Draußen gellen unregelmäßig Feuerstöße durch die Nacht. Ich hoffe, es ist das Militär, das endlich eingreift und vergrippt wirkende Hipster niederschießt. Wenn Sie mich fragen: So eine Apokalypse hätten wir schon viel früher haben sollen ... Takatakatak!, wieder einer, hoffentlich ein Aluhut. Jaja, anders als ein Helm schützt der nämlich nicht wirklich, haha!"


Ja, ja, so schrieb ich das damals - und Schlimmeres. Denn viele glauben ja, die globale Pandemie wäre gemacht worden.

 

Die Coronuminaten

Ich zum Beispiel stelle mir das so vor: In irgendeinem Labor (Wuhan, Fort Detrick ...) haben gewiefte Weißkittel, nennen wir sie mal Coronuminaten, sich an einen Tisch gesetzt und gesagt: "So geht das nicht weiter, mit ... wasauchimmer, dieser Weltordnung halt, ob alt oder neu! Also weg damit!" Und bis hierher bin ich auch dabei: Das war so, und weg damit. Aber was tun? Und da entschieden sie sich - weise, wie Weißkittel mit einer ungenügenden Menge von Fledermäusen im Dachstuhl nun mal sind - ein neues Virus zusammenzupanschen.

Quarantänose: 14 Tage, check, nur auf diese Weise tut es besonders weh.

Dingsbumsfaktor: 23, das zieht klare Denker an.

Tödlichkeitität: Wie Grippe, check, dann halten das alle für Schnupfen, ergo harmlos, und der Zweifel daran ist leicht zu säen. Denn der einfache Mann von der Straße (übrigens ein brutalsprachlicher Sexismus, der suggeriert, es gäbe keine einfachen Frauen von der Straße) ist ja Outbreak-Filme mit Ebola & Co gewohnt. Klar, an Ebola sind zwar weniger Leute gestorben als an Grippe, aber Ebola sieht wenigstens spektakulär aus, mit all dem Blut & Beuschel überall, das klickt auf Insta einfach besser.

Auch würden sich gegen Ebola, Lepra oder Pest nur schwer Demos organisieren lassen. Und um die geht´s ja. Mit denen sollen die jeweiligen Regierungen gestürzt werden, um ... um ... sie zu stürzen eben. Das ist ja, und ab hier bin ich dann auch wieder dabei, ein Wert an sich, doch zurück zur krass gekürzten Kolumne.

 

Toxoplasma gondii

"Unlängst kam mir folgender Gedanke. Es gibt da in der Natur das Beispiel eines Erregers, der sich lieber über Katzen als über Mäuse verbreitet. Um aber an die Katze ranzukommen, nutzt der Erreger die Maus: Vom Erreger befallen, verliert sie ihre Angst vor Katzen und läßt sich daher von diesen fressen, wonach diese dann ihrerseits den Erreger weiterverbreiten.

'Toxoplasma gondii’ sollten Sie jetzt mal lieber faktencheckerisch googeln, ehe sie diesen halb verstandenen, stark vereinfacht und verfälscht wiedergegebenen Verschwörungsunfug gleich wieder brühwarm weitererzählen, aber sowas wirft ja schon Fragen auf: Was, wenn wir einen Erreger haben, der Infizierte in einen gewissen Wahn treibt? Einen Wahn, der sie an flache Erden und reptiloide Regenten glauben läßt und anstiftet, Masken und Autoritäten (und Impfungen) abzulehnen (und so den Erreger weiterzuverbreiten)?

Was, wenn der Erreger mutiert und die Maskenverweigerer alsbald auf die Maskengutfinder und Maskenversteher losgehen und ihnen die Masken vom Gesicht reißen? Ich will wirklich nicht die längst nötige gewalttätige Zwietracht säen, ich bin schließlich Humorist - und irgendwas ernst zu nehmen, liegt mir schon rein körperlich fern, es sei denn, jemand bezahlt dafür.

Aber es wäre schon wichtig, finde ich jetzt mal, präventiv alle Verhaltensverdächtigen irgendwie kenntlich zu machen (chippen?), sie zu isolieren, in, äh ... Genesungszentren ... zu verbringen - und sich in ihrer Abwesenheit um, nun ... um ihre Besitztümer zu kümmern."

 

Natürlich übertrieb diese nie geschriebene Kolumne, die ich gottlob in die Schublade schob. Wollte ich wirklich schuld sein daran, daß mit dem Toxoplasma-gondii-"Narrativ" eine weitere virale Theorie ins Universum der Wirrköpfe sickert? Sich pandemisch ausbreitet, angesaugt von deren Leichtmetallkopfbedeckungen, die im extoplasmatischen Superstringgesang der 5G-Gedankenkontrolltürme unisono vibrieren? Natürlich nicht. (Wikipedia-Eintrag hier, schnell lesen, ehe er zensiert wird!)

Warum also denkt man sich sowas nur aus, während man sehnsüchtig nach draußen starrt und denkt "Ich will mein Leben zurück, vor allem die Pizzeria am Eck da vorne"?

 

Aussterben

Nun, das Ende der Welt macht einen eben nachdenklich. Man beginnt zu sinnieren, reflektiert Veränderungen, zieht Schlüsse ...

Angenommen, wir als Menschheit (ich zähle mich mal mit, obschon sie mir als Ganzes eher gleichgültig, in Einzelfällen gar zuwider ist) stürben aus, und zukünftig müßte die Erde ohne uns auskommen, nach einigen Anstandsmonaten selbstverständlich, in denen die Kadaver der Virologen und Nichtvirologen, der Aluhüte und der Dieechtewahrheitstetsbesserwisser verwesen würden.

Was würde sich ändern? Würden Nachrichtensendungen und Talkshows unsere Extinktion beweinen? Gäbe es Top-10-Listen wie "33 Dinge, von denen wir nicht geglaubt hätten, daß wir sie nach der Apokalypse vermissen würden" oder "23 Dinge, von denen die Menschen vor ihrem Aussterben glaubten, nicht auf sie verzichten zu können"?

Ich wüßte da einiges. Pizza Hawaii. Toast Hawaii. Hawaiihemden. Hawaii Fünf-Null (vor dem Remake!). Musik von Martin Denny. Solche Listen, sofern sie mit Hawaii zu tun haben. Etc.

 

Auszusterben ist ja keine Schande, viele haben diesen Schritt einfach mal gewagt, etwa der Dodo, von dem uns nur das wohlklingende Wort geblieben ist - das man jetzt btw. für irgendwas anderes verwenden könnte, etwa für Corona. Die Dodo-Krise klänge gleich viel netter, aber auf mich hört ja keiner.

Doch zurück zum Aussterben: Da las ich unlängst in Ermangelung von spannenderen Büchern, sozialen Kontakten und verbrecherischen Kaffeehausbesuchen ein wissenschaftliches Buch über Erdgeschichte. Prickelnd! Und ich war dann doch überrascht, wieviele Massenaussterben es bereits gegeben hat. Ich gewann die Einsicht: Eines mehr oder weniger macht den Kohl nicht fett.

Also, wir reden hier ja nicht von Grippe. Sondern von globalen Krisen, bei denen 95+ Prozent alles Lebenden beschlossen, der Idee des Existierens nicht weiter nachzugehen. Nun darf man zu recht fragen, ob wir die Gemeine Schließmundschnecke wirklich brauchen, aber schwieriger wird das eben schon bei Martin Denny - das wäre kosmisch gesehen ein Verlust.

Aber, ich sag´s ihnen ganz ehrlich: All das würde auf einer menschenleeren Erde doch auch keiner vermissen (außer Hawaii ... und Elvis). Die menschenleere Erde wäre ganz im Gegenteil ein beneidenswert friedfertiger Ort.

Steine wären, ohne daß einer ein Buch über ihre Strategien schriebe.

Wetter würde wechseln, ohne daß Apps dies immerzu falsch vorhersagten.

Bäche flössen, ohne daß Müllergesellenversager sich darin ertränkten, nur weil die scharfe Müllerin sich verständlicherweise stets für den toughen Jäger entscheidet, denn das tut sie immer, das ist einfach Evolutionsbiologie (auch prickelnd!).

Und die Wanderwege in den Bergen würden wieder zuwachsen, ohne daß auch nur ein einziges E-Bike-Arschloch ihre Ruhe störte.

 

Am Ende können Sie gottfroh sein, daß ich das nicht zu entscheiden hatte und den anderen Gentechnik-Wissenschaftlern unseres Coronuminaten-Workshops gesagt habe: Macht doch, was ihr wollt, Hauptsache, die Leute drehen irgendwie durch.

 

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Zum diesmaligen Bilderrätsel:

"In welchem Hotel befindet sich dieses charmante Badezimmer?"

Kolumnen_ Fundamentalteilchen 16/416: Der Winter steht vor der Tür

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Wolle mer ihn reinlasse?


Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 16. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Deine Freunde.

Ich zapfte mir den zweiten Espresso des Morgens und wunderte mich. Mein Bruder hat nämlich die übersinnliche Fähigkeit, immer dann anzurufen, wenn gerade die Kaffeemaschine ihr mahlendes, zischendes und ratterndes Werk verrichtet. Aber nichts war geschehen, also wollte ich schon aufatmen und den Tag so preisen, wie ihn mir der Herr oder die Königin von Melmackzack geschenkt haben. Daher ratterten sich die Bohnen ein weites Mal friedlich zu Kaffeestaub, als das Telefon mit einer derartig impertinenten Dringlichkeit losschellte, daß ich erst erschrak, dann eine Wut auf den Hersteller bekam und schließlich mit der dampfenden Tasse in der Hand den Hörer abnahm und den "Freisprechen"-Button drückte.

 

"Hier ist der automatische Anrufbeantworter von Mampf. Es steht Ihnen frei, zu sprechen oder die Klappe zu halten und später noch mal durchzuklingeln. Wobei es würdig und recht wäre, wenn Sie dieses 'Später' auf eine möglichst entfernte Zukunft verschieben könnten. Piiiiieeeepp!"

Mein Bruder ignorierte diese Nachricht an ihn geflissentlich, aber das war ja klar - und wieder mal typisch für ihn und die ihm innewohnende Hartnäckigkeit. Er murmelte kurz etwas, das wie "Armleuchter" klang, und legte dann los wie die Feuerwehr seinerzeit in "Flammendes Inferno". Aber natürlich brannte es bei ihm höchstens unter dem Kittel.

"Hast du schon mal vor die Tür geschaut?"

"Nein, warum denn? Da ist es bestimmt nicht so garstig wie seinerzeit bei Herrn Beckmann in 'Draußen vor der Tür'."

"Na, dann guck doch mal raus!"

"Warum?"

"Der Winter steht vor der Tür."

"Da steht er doch gut!"

"Äh, aber ..."

"Du willst doch nicht etwa, daß ich ihn reinlasse?"

Mein Bruder stoppte das Geplänkel jäh, schalt mich "albern", was ich bestätigte, und erinnerte mich daran, daß bald Weihnachten sein würde. Deshalb wolle er gern wissen, was ich mir wünschen würde.

 

 


"Zuerst wünsche ich mir Frieden in den Mauern und Palästen meines Lebens, dann den Weltfrieden und ..." Er unterbrach mich. "Wieder so eine Unsitte, die ihm unsere Eltern anerzogen haben", dachte ich, brühte mir gleich einen doppelten Espresso, während ich das Telefon auf den Eßtisch legte und meinen Bruder brabbeln ließ, als sei er der leibhaftige Eminem. Jedes zweite Wort ging im Getöse des Vollautomaten und meiner Entfernung zum Mobilteil unter. "Das sind definitiv die positiven Seiten des Social Distancings", murmelte ich zu mir selbst, aber schließlich rückte das Telefon doch wieder in Hör- und Griffweite.

"Du kennst die neuen Bestimmungen für das Fest?"

"Ja, natürlich", log ich. Eigentlich hatte ich während der Nachrichten eine Folge "Fringe" geschaut, weil mir die Serie realistischer als unser Alltag in der Pandemie vorkam. Außerdem war mir auch ohne Jens "Söder" Spahn klar, daß man sich nicht in Großgebinden zusammenrotten würde dürfen, was mir aber sowieso bestens ins persönliche Fengshui paßte. Schade war nur, daß Hannes das "A Thousand Miles to Dublin" auch nicht öffnen würde können.

"Statt Sperrstunden gibt´s jetzt nun mal Sperrwochen", sagte ich etwas zu laut.

"Wie meinen?" fragte mein Bruder, und ich ging nicht darauf ein.

"Ich hätte einen 'Plandemie' ", fuhr er fort.

"Müßte es nicht 'eine Plandemie' heißen?" fragte ich.

"Keine Ahnung, das spielt doch keine Rolle. Aber wo du schon wieder mal beim Erbsenzählen bist: Ich plane unser Weihnachtsfest" - er sagte wirklich "unser" -, "und wen wollen wir denn einladen? Du weißt ja, es dürfen maximal zehn Personen aus zwei Haushalten sein."

 

 

Das wußte ich natürlich auch nicht, denn davon wurde in "Fringe" nichts erzählt. In der Folge, die ich guckte, ging es um eine düstere Parallelwelt, die aber wenigstens zwei Vorzüge gegenüber unserer Realität hatte: Von Corona Dignidad war keine Rede, und - was auch nicht zu verachten war - von meinem Bruder auch nicht. Er begann von den regional sehr unterschiedlichen Regelungen zu sprechen (ich hatte aber ohnehin nicht vor, nach Berlin, Bielefeld oder Barsinghausen zu reisen) und kam dann stracks zur "Impflicht durch die Hintertür".

Vielleicht sollte ich doch mal nachschauen, was draußen vor sich ging? Immerhin wurde es Zeit, mit den Hunden rauszugehen. Dringende Geschäfte müssen nun mal zeitnah erledigt werden. Allerdings lagen die beiden noch schlummernd auf ihren Kissen. Oder sie taten zumindest so. Ich sollte es ihnen gleichtun.

"ChrrrChrrr" - ich imitierte ein Schnarchen, was aber mißlang.

"Wenn du wirklich sägst, klingst du ganz anders", lachte mein Bruder und erinnerte mich daran, daß dieses Weihnachten ein Fest der Liebe ohne die Liebste werden würde. Das wußte ich natürlich, und ich wußte auch, wie das weitergehen würde: "No New Year´s Day to celebrate/No chocolate-covered candy hearts to give away."

 

 

Eigentlich hätte ich den Heiligen Abend oder einen der Feiertage am liebsten mit Nina, Rebekka, Horst und Herrn Lesch bei Hannes verbracht, aber wir hatten alle mehr oder minder terminlich an diese Zeit gebundene Verpflichtungen. Meine hing gerade am anderen Ende des Voice-over-IP-Kabels und nervte. Also lenkte ich vom Gespräch ab, nachdem er mich doch tatsächlich für den 24. Dezember zu sich nach Hause eingeladen hatte. "Schöne Bescherung", dachte ich.

"Ach, das ist sehr lieb von dir. Du baust doch sicher wieder die Krippe von Opa Heinz auf?"

"Die steht schon!"

Er meinte, daß er mich ausdrücklich auch im Namen seiner Frau darauf hinweisen müsse, daß ich weder meinen kleinen Blechroboter als Wächter vor das Gatter beim Stall noch ein Miniaturfoto meiner Ex in die karge Herberge von Ochs und Esel hängen dürfe. Das verstand ich natürlich. Beides paßte nicht in die biblische Szene und zu Bethlehem - auch wenn dieses spezielle Bethlehem eher an Schönberg im Bayerischen Wald erinnert.

 

 

"Nein, keine Sorge, das mache ich beides nicht. Aber eines muß natürlich sein."

Er seufzte so laut, daß nicht nur der Pudding sein Seufzen hörte, sagte aber nichts.

"Es ist an der Zeit, endlich den vierten König zur Krippe stellen!"

Irritiertes Schweigen am anderen Ende, also erklärte ich:

"Ohne Scheiß jetzt! Du kennst doch die biblische Geschichte. Bekanntermaßen waren es ursprünglich vier heilige Könige, die seinerzeit loszogen, das Jesuskindlein zu suchen. Caspar, Balthasar, Melchior - und Wendelin. Aber Wendelin hat sich unterwegs verlaufen und es bis heute nie bis nach Bethlehem geschafft. Du weißt ja, wie das ist. Mangelnde Beschilderung am Wegesrand, wie damals, als wir uns unweit von Pottenstein ..."

Er legte auf. Hätte er ein Telefon mit Hörer, hätte er den mit Schmackes auf die Gabel gedonnert. Ach, er benutzt ja tatsächlich so ein antikes Gerät. Drum knallte das so in meinem Ohr. Zufrieden ging ich vor die Tür, schaute kurz in die Richtung, in der ich Melmakzack vermutete und ließ mir von den Hunden den Weg in den Tag zeigen.

 

Manfred Prescher - Es war nicht alles schlecht: Best of Miststück


Kolumnen 2005 bis 2020

Fotos c:

Musik_ Weihnachtliche Musiktips im Corona-Jahr

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Geschenktips für Klassikfreunde

Hören darf man heuer auch ganz ohne Maske. Grund genug für den EVOLVER-Klassikexperten Herbert Hiess, seine Musiktips für die Weihnachtszeit unter den virtuellen Christbaum zu legen.

Das Jahr 2020 hätte man eigentlich als Beethoven-Jahr begehen wollen, doch wurde das Gedenken an den armen Ludwig van massiv von der Corona-Viruspanik überlagert. Das ist aber kein Grund zur Sorge; das allmächtige Genie hat es gar nicht notwendig, gegen einen solchen künstlich erregten Erreger anzukämpfen. Der wird nämlich hoffentlich bald Geschichte sein, während der deutsch-österreichische Komponist niemals aus der Geschichte wegzudenken ist.

So ein Virus kann den Musikfreunden auch niemals die Weihnachtsfreuden verderben. Obwohl Tonträger und DVD nur das halbe Vergnügen sind, hat man dadurch wenigstens die Möglichkeit, sich musikalische Freuden ins Wohnzimmer - oder wo man sich sonst noch aufhalten darf – zu holen. Der Live-Kulturbetrieb ist ja derzeit sowieso seltsam schmähstad ...

Deswegen folgt hier eine Übersicht über empfehlenswerte Neuerscheinungen und sogenannte "Dauerbrenner".

Meine schönsten Weihnachtslieder


Daniel Behle, Tenor; Oliver Schnyder Trio & Friends (Sony Classical)

Weil Weihnachten ist, eine Empfehlung mit passenden Liedern fernab von Kitsch und Zuckerguß. Der intelligente und großartige deutsche Tenor Daniel Behle bringt in eigenen Arrangements mit seinen großartigen Kollegen die bekanntesten Weihnachtslieder auf neue Weise, ohne mit der Tradition zu brechen.

It´s Christmas


Jonas Kaufmann; div. Ensembles (Sony Classical)

Andernorts wurde diese Doppel-CD schon ziemlich "zerlegt", doch ganz so schlimm ist es nicht. Natürlich hat der deutsche Startenor nicht nur Freunde, und manche der Lieder klingen vielleicht angestrengt - dennoch ist sein angenehmes Timbre mit Freuden anzuhören. Und trotz der etwas beliebigen Liedauswahl ist diese CD eine gute Empfehlung für die (vor allem weiblichen) Jonas-Kaufmann-Fans.

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg


div. Solisten, div. Chöre; Staatskapelle Dresden/Christian Thielemann

Für "Wagnerianer" ist diese Aufnahme ein absolutes Muß! Christian Thielemann beweist hier wieder einmal eindrucksvoll, daß er heute bei Wagner und Richard Strauss als Dirigent fast unangefochten an der Spitze steht. Es ist wahrlich begeisterungswürdig, wie er mit der großartigen Dresdner Staatskapelle kammermusikalisch musiziert. Gesanglich braucht sich diese Aufnahme auch nicht zu verstecken: Mit Georg Zeppenfeld als Sachs und Klaus Florian Vogt als Walther von Stolzing sind hier zwei Spitzenleute aus der so ausgedünnten Wagner-Sänger-Szene zu hören.

Anton Bruckner: Symphonien Nr. 1–9


Münchner Philharmoniker/Valery Gergiev (Warner Classics)

Schon lange sind die Bruckner-Symphonien gesamt auf Tonträger erschienen. Diese Neuproduktion für Warner ist aus Live-Konzerten im Stift St. Florian (Anm.: St. Florian ist auch der Geburtsort des Komponisten) entstanden. Valery Gergiev ist zwar ein "Vielarbeiter"; seine Produktionen versanden jedoch nie in Routine. Diese Produktion kann man Bruckner-Freunden getrost schenken; sie werden erfreut sein über den wunderbaren Klang des Orchesters, den musikalischen Phrasierungen des Maestros und der großartigen Akustik der Stiftskirche.

Sommernachtskonzert 2020


Jonas Kaufmann, Tenor; Wiener Philharmoniker/Valery Gergiev

Im höchst sonderbaren Jahr 2020 war dieses Konzert eines der seltenen Höhepunkte. Unter dem Titel "Liebe" schafften es Gergiev, das großartige Orchester und Jonas Kaufmann, eine wunderschöne Stimmung bei richtigem Traumwetter zu vermitteln. Da das Konzert auch auf DVD erhältlich ist, kann man zur musikalischen Meisterleistung auch die optischen Eindrücke schenken.

Bruce Springsteen - Letter To You

Bruce Springsteen ist ja mittlerweile schon ein Klassiker im Pop-/Rockbereich und beweist hier, wie er seine alten "Hadern" wie "House Of Thousand Guitars" (ein Hit-Dauerbrenner) immer wieder faszinierend neu interpretieren kann. Damit ist er auch schon auf Spuren des späten Johnny Cash.

Neil Diamond - Classic Diamonds

2017 gab es einen phantastischen Auftritt der Hitfabrik Neil Diamond in der Wiener Stadthalle im Rahmen einer Welttournee, die der Künstler dann aus gesundheitlichen Gründen leider abbrechen mußte. Zum Glück konnte er sich wieder erfangen und liefert hier seine Welthits im klassischen Orchesterarrangement. Gespielt wird grandios vom London Symphony Orchestra. Natürlich sind alle seine Hits fürs Orchester gesetzt, wobei manche Arrangements fast den Charakter des Songs zerstören, vor allem bei "Beautiful Noise". Doch die anderen Nummern sind durchwegs exzellent gelungen - für Freunde der edlen Popmusik ein absoluter Geschenktip.

www.musicalia.tv

"Musicalia" ist ein exzellentes Streamingportal, für das man Abonnements erwerben und auf dem man viele Aufzeichnungen von Opern und Konzerten erleben kann. Die Opern sind vor allem aus italienischen Produktionen entstanden, nicht immer mit "allerersten" Besetzungen, aber trotzdem recht anspruchsvoll. Das große "Atout" hier ist quasi das musikalische Vermächtnis des Stardirigenten Lorin Maazel. Da gibt es alle Beethoven-Symphonien aus Taormina, Haydns "Schöpfung" aus der Basilica St. Paolo in Rom oder Berlioz´ "Symphonie Fantastique" aus dem wunderschönen Amphitheater in Ostia Antica bei Rom. Also ist so ein Abo auf alle Fälle das passende Geschenk in der unseligen "Streaming-Zeit". So kann man guten Gewissens das Jahr ausklingen lassen

 

Mögen diese weihnachtlichen Empfehlungen eine Quelle für viele Inspirationen sein. Da sich auch die klassische Musik immer mehr von der CD zu den diversen Streamingportalen hin verlagert, sei den Musikfreunden empfohlen, dort auch auf die Suche zu gehen. Für Geschenkzwecke gibt es ja immerhin die Möglichkeit, bei den diversen Anbietern Gutscheine zu erwerben.

 

In diesem Sinne allen Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest!

Kolumnen_ Fundamentalteilchen 17/417

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Alte Freunde, neue Zeiten


Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 17. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ina Müller.

Ich hatte Nick diese Aufkleber besorgt. Sie stammten noch aus meiner Radiozeit, und ich hatte eigentlich gar nicht mehr dran gedacht, daß es die noch gab. Aber Nick fand sie irgendwo in den Weiten des Internets und stellte sofort den Bezug zu mir her - was vermutlich nicht so schwer war. Ich muß vielleicht erwähnen, daß Nick und ich früher einmal super zusammenarbeiteten.

Gemeinsam mit meiner Ex habe ich versucht, ihm den Job zu retten, was allerdings gründlich mißlang. Dabei kann man einen kreativen Gesellen wie Nick immer gut brauchen, wenn es mal gestalterisch hakt. Er ist ein begnadeter Sprayer, der Hochhäuser mit Dinosauriern gestaltet, er photographiert für Kalender und kann als Graphiker auch Zeitschriften so runderneuern, daß plötzlich die Optik cool ist. Deswegen habe ich ihm auch den einen oder anderen Auftrag zukommen lassen. So hat er zum Beispiel die Getränkekarte vom "A Thousand Miles to Dublin" so wunderprächtig gestaltet, daß Hannes ihm schriftlich lebenslanges Freibier zusagte. Und für meinen Bruder bastelt er gerade eine Broschüre für die Wünschelrutenmassage. Auf das Ergebnis müssen wir allerdings noch warten, falls es uns überhaupt interessiert. Denn im Augenblick kann sich mein bescheuerter Verwandter nicht entscheiden, wie und mit welchen Worten er die anvisierte Zielgruppe überhaupt erreichen möchte. Ich habe Nick daher geraten, in der Zwischenzeit mal beim netten Herrn Lesch nachzufragen, ob er ein paar Photos braucht, auf denen er ins richtige Sternenlicht gerückt werden würde. 

 

 


Seit Nick also für meinen Bruder arbeiten soll, aber nur tatenlos zusehen kann, wie dieser einen Textversuch nach dem anderen ins Altpapier befördert, haben wir wieder Kontakt. Intensiver wurde unsere Kommunikation, als Nick wegen der Aufkleber so erregt war, daß er vor Freude an die Decke seines Arbeitszimmers donnerte. Zumindest kam es mir so vor, denn kurzzeitig verschwamm der Videochat, bevor er sich zu einem schwarzen Bildschirm auswuchs. Ich sah also nichts, aber ich hörte ihn fluchen. "Hallo, Nick, hier spricht das Kontrollzentrum. Alles in Ordnung bei dir da oben?"

"Mir ist die Kamera vom Laptop gefallen. Das blöde Ding hält einfach nicht mehr."

"Schade, Scheiße, kann schon mal passieren", antwortete ich und sagte, daß wir doch einfach ohne Cam weiterplaudern könnten. Dann wäre der Empfang klarer, und ich bekäme nicht nur Bruchstücke mit. Der Pegel meines Soundsystems wirkte ohnehin mehr wie das deutliche Zittern einer Wünschelrute, die oberhalb des Rheinfalls bei Schaffhausen nach Wasser sucht.


"Wie kommst du mit meinem Bruder klar? Er ist ein Idiot, musst du wissen ...", sagte ich.

"Das hast jetzt aber du gesagt", antwortete er. Mehr wollte er nicht über die nur langsam anlaufende Zusammenarbeit preisgeben. Das mußte auch nicht sein, denn ich kannte meinen Bruder. Und das schon lange. Wenn es um mich geht, hat er immer schnell einen oder meist mehrere schlau gemeinte Sätze parat. Die eigenen Angelegenheiten wurden allerdings nur mit viel Zaudern und Zögern, mit Drehungen und Wendungen erledigt.

 

 

Nick und ich wechselten also das Thema und redeten über Frauen. In seiner Ehe herrschte grad der wunderbare Einklang zweier verliebter Seelen. Blöd war nur, daß sie den von ihm gebuchten Hochzeitsurlaub immer noch nicht antreten konnten. Erst hatte das Geld nicht gereicht, weil ihn sein Chef vor die Tür gesetzt hatte, dann kam das Virus dazwischen. Nick und seine Frau mußten also noch länger verheiratet bleiben, wenn es mit dieser speziellen Reise noch klappen sollte. Aber das hatten sie ohnehin vor. Bislang hätten sie bloß Flittertage gehabt. Und seien nur bis ins Kleine Wulsertal gekommen. Es fühle sich, so Nick, an, als hätten sie ein halbes erstes Mal erlebt und seien auch nur halb verheiratet. Was freilich nicht stimmte, wenn er an den Steuerbescheid und das eheliche Glück und die Liebesnächte dachte.


"Es ist nur so ein Gefühl, das mich ab und an überkommt", sagte er und fragte weiter:

"Mit dir und Dagmar ist es aus?"

"Yepp", antwortete ich. Ich würde ihm auf keinen Fall verraten, wo sie hinverschwunden ist. Das könnte seinen kreativen Kopf nachhaltig verwirren.

"Schon komisch. Von meiner Warte aus betrachtet, wart ihr echt ein tolles Paar."

"Yepp", antwortete ich und dachte, daß das für ein paar Wochen gestimmt haben mochte. Ab wann das nicht mehr so war, wußte ich allerdings nicht. Hannes, der Barmann vom "A Thousand Miles to Dublin", war der Meinung, daß "Verliebte Jungs" zwar auf den Straßen tanzen konnten, aber Veränderungen bei der Partnerin zu spät oder gar nicht wahrnahmen. Das sagte ich allerdings nicht, sondern beließ es beim "Yepp".

"Sie hat ganz oft von dir geschwärmt. So kannte ich sie gar nicht", fuhr er fort.

"Das beruhte auf Gegenseitigkeit", sagte ich und hätte am liebsten "Kaum zu glauben!" gesagt, weil ich es kaum glaubte. Ich dachte daran, daß ich jedes Mal, wenn ich sie verließ und den Zug nach Hause nahm, eine Nachricht bekam. Die bestand stets aus demselben, echt seltsamen Bild von mir und der Zeile "Hoffentlich nimmt dich keine mit!" Das ist natürlich nicht passiert.

 

Nick und ich wechselten wieder das Thema, weil es einfach nichts mehr dazu zu sagen gab. Er war gerade dabei, ein Kunstwerk - genau das würde es sicher werden - für mich zu erschaffen. Während er redete, ging mir der Song durch den Kopf, den ich mit dem Beziehungsanfang verbinde: "Please Don´t Tell Me How The Story Ends". Mittlerweile weiß ich, wie die Geschichte tatsächlich zum Schluß kam und welchen Anteil ich daran hatte. Hätte ich das Ende vorhergesehen, wäre vielleicht vorher einiges anders gelaufen. Möglicherweise wäre ich früher an einen Ort gegangen, an dem man traditionell vor Unfug gefeit ist und auch selbst keinen Mist baut: Das "A Thousand Miles to Dublin".

 


"Wir müssen uns unbedingt bei Hannes ein paar Pints aufs Zäpfchen gießen, wenn der Corona-Mist vorbei ist", sagte Nick.

"Guter Plan! Möge er in Bälde funktionieren!" antwortete ich. Ach, ich liebte es schon immer, wenn Pläne funktionieren. 

 

 

PS der EVOLVER-Redaktion: Unsere jährliche Winterpause steht kurz bevor. Sollten Sie währenddessen nicht auf Manfred Preschers "Fundamentalteilchen" verzichten wollen, statten Sie ihm bitte hier einen Besuch ab.

Oder lesen Sie im EVOLVER, wie alles begann ...

 

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Zum ersten "Miststück der Woche".


Manfred Prescher - Es war nicht alles schlecht: Best of Miststück


Kolumnen 2005 bis 2020

Photos: © Sony Music/Sandra Ludewig

Stories_ Rokko´s Adventures im EVOLVER #105

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Hinter den Büschen von Wien


Es gibt nicht nur Puffs und Swingerclubs, sondern auch die freie Wildbahn: geheime Sexorte im öffentlichen Raum, wo man sich selbst aktiv betätigen oder als Voyeur in Erscheinung treten kann. Diese Plätze zu finden erfordert Zeit, Geduld - und im besten Fall Anstand. Rokko führte ein Gespräch mit einem, der den Wiener Dschungel schon seit Jahrzehnten durchkreuzt.

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Auf www.erotikforum.at postete im Juni 2011 ein Internetnutzer namens "SecretSex" unter dem Titel "Neue Homepage über geheime Sexorte und Plätze!!!!!!!": "Ich bringe in der nächsten Zeit eine neue Homepage online, auf der man sich über eine Landkarte Übersicht verschaffen kann über gut geeignete Orte, geheime Straßen, Parkplätze und vieles mehr, um sich geheim zu treffen. Diese Seite wird optimal geeignet sein für jene, die sich gerne Outdoor vergnügen, und auch für Leute ,die sich gerne beobachten lassen oder beobachten. Egal, ob Mann, Frau oder Pärchen ... Egal, ob Hetero, Bi oder Homosexuell. Jeder ist hier willkomen!

Im Laufe der Woche geht die Seite online. [...] Ich starte mal mit den Orten die ich selbst erforscht habe, aber hoffe durch rege Beteiligung der User schnell eine umfangreiche Liste zu haben, um flächendeckend zu arbeiten."

Die Reaktion auf diesen Übergriff, internes Wissen nach außen zu tragen, erfolgte nur wenige Minuten später. Ein Forumnutzer - die meisten von ihnen sind männlich - mit dem Namen "Steirerbua" schrieb: "Nimmst du irgendwelche Medikamente? Daß es keine Website gibt, auf der geheime Treffpunkte aufgeführt sind, wird wahrscheinlich daran liegen, daß die geheimen Treffpunkte keine geheimen Treffpunkte mehr sind, sobald die Adressen im Web veröffentlicht werden. [...] Schon allein die Diskrepanz zwischen 'geheim' und 'öffentlich ankündigen' sollte für Leute mit einem Funken Verstand verständlich sein." User "FotoAlex" antwortete darauf: "Wenn alles Blut im Schwanz drin ist statt im Hirn, könnt´ das schwierig werden." Und damit war das Thema gegessen. Die Seite ging nie online.

 

Geschenke der Götter

 

Das fast esoterisch anmutende Wissen über geheime Sexorte weiterzugeben, ist eine Gratwanderung. Einerseits dürfen nicht zu viele davon wissen, weil dann die spezifische Qualität der Orte verloren geht, andererseits auch nicht zu wenige, um den Kitzel des Spiels zwischen Beobachtenden und Beobachteten aufrechtzuerhalten.

Sexorte im öffentlichen Raum sind also keine statischen, sondern stets mutierende Gebilde. In Wien existieren dennoch welche, die schon fast Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung gefunden haben. Manche dieser Plätze wurden bereits für tot erklärt, bei anderen wandelt sich bis heute, wie und von wem sie genutzt werden. Zu den bekanntesten Treffpunkten im Grünen gehören der Prater, die Lobau, die Höhenstraße, der Stadtpark, der Rathauspark, der Volksgarten, der Augarten und die Donauinsel. Parkplätze in der Ausstellungsstraße, in der Perspektivstraße, in der Krieau, in der Donauturmstraße und in der Landwehrstraße brachten es ebenso zu ihrer Reputation wie WC-Anlagen bei wechselnden U-Bahn-Stationen. Im Normalfall gibt es dabei kein finanzielles Interesse.

Einer, der diese Orte seit Jahrzehnten beobachtet und mitgestaltet hat, ist Frank, 57, in feinem Zwirn, Künstler und Lebenskünstler: ein Spanner und Swinger aus Leidenschaft. Wir laufen uns seit Jahren in verschiedenen Lokalen über den Weg, er ist eine tadellose Barfly mit Benehmen und Geschichten. Frank zieht an einer Zigarette und sagt enttäuscht, aber immer noch mit Feuer in den Augen: "Irgendwann ist selbst das raffinierteste Spiel zu Ende." Und dieses Ende läßt sich laut Frank, der auf gewählte Ausdrucksweise genauso Wert legt wie darauf, daß sein Name nicht deutsch, sondern englisch "wie in Frank Sinatra" ausgesprochen wird, genau datieren: "Mit Fug und Recht kann man behaupten, daß es in puncto Freizügigkeit und Toleranz - also auch in Sachen freie Liebe an öffentlichen Orten - 2003 einen ruckartigen Kippeffekt gegeben hat. Das war ein unübersehbarer Moment in ganz Wien." Womit das zu tun hatte? "Mit einer allgemeinen Verunsicherung und mit dem rasanten Fortschreiten der Technologie, dem die Gesellschaft nicht nachkommt. Photos, Handys, Nachtkameras - also Notizen im Film- und Photoformat - waren plötzlich für jeden zu allen Zeiten und an jedem Ort verfügbar. Das hat das gesamte Klima ruiniert. Aber vorher haben wir noch a Hetz g´habt."

Die technischen Entwicklungen seien aber nicht der einzige Grund, warum es im öffentlichen Raum unergiebig geworden ist, fährt Frank, der in schnellen, schier endlosen Monologen reden kann, ohne Pause fort: "Fast zeitgleich hat es auch eine massive Veränderung in Sachen Hemmschwelle gegeben: Die Beobachter haben den Respekt gegenüber den Tätigen verloren. Deswegen kann man auch eine dramatische Rückläufigkeit an Pärchen beobachten, die sich noch im öffentlichen Raum vergnügen. Diese Pärchen leiden darunter, die sind ja irrsinnig scharf drauf, sich in der Öffentlichkeit zu vernaschen, und würden es auch tun, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn nicht lauter Idioten unterwegs wären." Frank erinnert sich an eine beispielgebende Szene - nur eine von vielen - im Spätsommer 2003: "An einem Nachmittag ist ein Gewitter aufgezogen. Ein junges Pärchen, beide um die 25, wollte die Gelegenheit nutzen und es gleich neben der Ungarbrücke im Stadtpark treiben. Ich hab das gesehen und genossen - die haben genau gewußt, daß ich sie beobachte, und sie fanden es geil. Dann sind vier Buben dahergekommen - leider keine Österreicher", sagt Frank, der alles andere als ein Rassist ist. "Die wollten hingehen und mitmachen, und die Frau hat gesagt: 'Ihr seid da nicht eingeladen!' Dann haben die Burschen geantwortet: 'Rufen Polizei! Rufen Polizei! Habt ihr nix Wohnung?!' Der Mann, der sich da mit seiner Freundin eine schöne Zeit machen wollte, ist aufgesprungen, aber da sind die vier schon weggerannt. Das Pärchen hat sich dann bei mir noch entschuldigt: 'Tut uns leid, aber uns ist die Lust vergangen.' "

Das Quartett habe eine Grenze übertreten und damit diese delikate Situation für alle zerstört, sagt Frank; er hingegen sei mit dem nötigen Respektsabstand dort geblieben, wo er hingehörte. "Wobei es auch genug Situationen gegeben hat, wo ich im Zuge des Aktes eingeladen worden bin, vom Beobachter zum Tätigen zu werden, oh ja, oh ja!" fährt er grinsend fort. "Aber zu so einer Interaktion gehört eine Sensibilität. Es gibt Menschen, die dieses Geschenk als solches annehmen können, sich bei den Göttern bedanken und hinterher schweigend gehen. Aber wenn man nur mit dem Rohr in der Hose denkt, ist man am falschen Platz. Es gibt kein Recht des Betrachters." Vielmehr Glück und Geschick. Frank ging schon in den späten 1970ern auf die Pirsch und war viel in der Lobau, wo Sex im Freien gang und gäbe war. Aber es war bereits damals diffizil, meint er: "Manche wollten es im Freien treiben, aber ihre Ruhe dabei haben. Und es hat immer auch solche gegeben, die genau das Gegenteil wollten. Im Resselpark war auch sehr viel Leben, bis sie das zwischen 1994 und 1996 abgedreht haben."

Bald wurde dieser Ort überhaupt zur sterilen Touristenschneise herausgeputzt und man hat sämtliche Zeitlupencowboys mit blauen Lippen vertrieben, woraufhin sich die Behörden beschwerten, daß Drogensüchtige nun an anderen Orten ihren Geschäftig- und Tätigkeiten nachgingen. Interessanterweise wurden die Junkies durch defensives Verhalten damals wieder zurückgelassen, da die Polizei plötzlich den Vorteil einer gewissen Faßbarkeit der Szene schätzen lernte, nachdem sie diese in unüberschaubare neue Sprengsel verteilt hatte. Die Swingerszene hingegen wurde in der Karlsplatz-Gegend nicht mehr toleriert. Mittlerweile sieht man hier weder die eine noch die andere Sippschaft: aus dem Auge, aus dem Sinn - und g´schissener für alle Beteiligten.

Um die Höhenstraße, die sich durch die Wald- und Hügellandschaften an den nordwestlichen Rändern Wiens zieht, ranken sich ebenso zahlreiche Mythen. Die an sich sinnlose Panoramastraße war ein austrofaschistisches Paradeprojekt von Dollfuß und seinen Arbeitsbeschaffern, die aber sicher nicht im Kopf hatten, daß sie nach dem Zweiten Weltkrieg Menschen zum Pudern verhelfen würde. Eine sich aus der Szene mittlerweile zurückgezogen habende Dame, die anonym bleiben möchte, meint: "Ich erinnere mich, daß ein Restaurant an der Höhenstraße, das es noch heute gibt, vor Jahrzehnten ein beliebter Promi-Sextreffpunkt gewesen ist. Dort hat angeblich der Sportreporter Kurt Jeschko (1919-1973) beim 'einarmigen Liegestütz' auf einer bekannten Sportlerin einen Herzinfarkt erlitten ..." Zuvor hätte sich Jeschko noch im ORF für die "Schach dem Herztod"-Kampagne stark gemacht.

Die Höhenstraße hat Frank nie interessiert: "Ich bin nicht motorisiert, und außerdem: So viel tu ich mir nicht an. Wenn die Jagd zur Pflicht wird, dann ist sie keine Lust mehr, sondern Arbeit. John Cale hat einmal verzweifelt für Wochen versucht, einen Ton zu treffen - gut, bei ihm zahlt sich das sogar aus, und Lust, Ton und Bild liegen sehr nah beieinander, aber ich arbeite nicht für die Lust! Da ist ein Widerspruch."

 

Regeln im Dschungel

 

Den Strafbestand "Erregung öffentlichen Ärgernisses" im Zuge seiner Aktivitäten hält Frank für äußerst fragwürdig. Er bläst abschätzig Rauch aus dem Mund und sagt: "Erregung öffentlichen Ärgernisses ist für mich, wenn ein Hausmeister seine Wamp´n auspackt und einem das Speiben kommt. Bitte, im Park können die Büsche wackeln, Hauptsache, es geht ihnen gut. Besser, als sie wackeln, weil eine Oma überfallen wird." Nur eines hat klar zu sein: "Das ist eine Erwachsenenwelt, die von Kindern ferngehalten werden muß. Eine Interaktion dieser beiden Welten hat entsprechend bestraft zu werden."

Um solche und andere Übertretungen zu vermeiden, gibt es in einschlägigen Onlineforen bereits erste Versuche, Verhaltensregeln für Sex im öffentlichen Raum zu etablieren. In vier Abschnitten wird auf www.erotikforum.at erläutert, wie man sich in freier Wildbahn zu verhalten hat: "Das Handy bleibt im Auto oder, wenn man das aus Sicherheitsgründen nicht möchte, auf LAUTLOS in der Tasche. Man macht insbesondere KEINE Photos oder Videos ohne die vorherige explizite Einwilligung aller Anwesenden. Man ruft NICHT einfach weitere Personen per Telefon hinzu, falls sich irgendetwas tut." Außerdem: "Die überwiegende Mehrheit der Frauen und Paare schätzt es überhaupt nicht, mit Ausdrücken wie Fotze, Schlampe, Stute, Sau, Fickstück u. ä. angesprochen zu werden. Paare und Frauen, die das möchten, werden das deutlich machen. Andernfalls gibt es KEINEN Grund dafür, jemanden auf einem Parkplatz anders und abfälliger anzusprechen als z. B. in einer Bar." Und noch ein Punkt: "Für die Herren gilt: Man preßt NICHT ungefragt seinen Schwanz an die Scheiben und ejakuliert auch NICHT auf fremde Autos."

Genauso hätte man zu akzeptieren, abgewiesen zu werden - und auch jener kritische Punkt, an dem Geschmacks- zu Sicherheitsfragen werden, wird behandelt: "Man versperrt NIEMALS einem Auto die Fahrt und fährt KEINEM Auto hinterher, es sei denn, es wurde mit den anderen Personen ausdrücklich besprochen, daß man gemeinsam woanders hinfährt." Diese Regeln werden allerdings nicht immer befolgt, wie User "Kira6" im Juli 2014 mit Verweis auf seine Erfahrungen in der Lobau schreibt: "Fahrt´s Raffineriestraße z´ruck bis zum letzten Parkplatz, da habt ihr dann 15-20 Zuschauer, 90 % aufdringliche Ausländer, die verfolgen euch dann bis nach Hause! Genau da ist das Problem in Wien, um richtig swingen zu können, müssen Paare dauernd ausweichen, wie vor 10 Jahren einen PP [Parkplatz] an der Raffineriestraße anfahren geht einfach nicht mehr, weil zuviele Notgeile dort warten und aus der Not keine Frau zu finden, vertreiben´s die einzige, die sich einmal dorthin verirrt, weil´s durch Fake-Posting neugierig gemacht wurde [...] hatten gleich einen Schwanz von gut 15 Männern hinter uns hergezogen, von denen ca. 10 schon den Schwanz heraußen hatten, wenn eine Frau nicht gerade auf´s Überfallenwerden steht, ist das ziemlich abtörnend und wird dort nicht mehr auftauchen, das passiert in der Lobau jetzt auch und damit verwandelt´s den Ort zum reinen Schwulentreff."

Auch Frank, der generell nichts gegen Homosexuelle hat, sagt: "Am Konstantinhügel ist früher alles zwischen Frau und Mann passiert, was Gott verboten hat, bis die Schwulen übernommen haben. Das war um 2000 herum, daß die die Schirmherrschaft über den Hügel übernommen haben. Die haben generell die schönsten Orte, auch die Lobau, unter Beschlag genommen. Der Schweizergarten hinter dem ehemaligen Südbahnhof - was war da los, ein Geschenk! Heute ist es dort so gut geheizt, daß nicht einmal im Winter mehr Schnee liegen bleibt - nur Warme."

Sebastian, Anfang 50, Kurzhaar- und Hornbrillenträger, besonders in den 1980er  und 1990er Jahren in der Wiener Homosexuellenszene aktiv, erklärt seine Sicht der Dinge: "Traditionell fand schwuler Sex wegen fehlender Alternativen oft im öffentlichen Raum statt. Wohnte man nicht allein oder in Untermiete, konnte man den Partner meistens nicht in die eigene Unterkunft mitnehmen. Daher kommt mir die Behauptung, daß die Homos die Plätze der Heten 'übernommen' hätten, etwas übertrieben vor. Sowohl die Lobau als auch der Konstantinhügel und andere Orte im Prater sind seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in Strafakten und Polizeiberichten als schwule Treffpunkte belegt."

Der Schweizergarten, jener andere von Frank als einst "himmlisch" beschriebene Ort, hat unbestritten eine extreme Wandlung durchgemacht: Bis kurz nach der Jahrtausendwende verhalf der Park noch sämtlichen Orientierungsgruppen zum Sex, seither wurde er immer mehr zum "Bubenstrich" für junge Roma und Sinti, die dort der Armutsprostitution nachgehen.

 

Internet und Biedermeierei

 

Die goldenen Zeiten der teils recht unbedarften, vom Geist der 1960er gespeisten Freiluftsexorte scheinen aus verschiedenen Gründen vorbei zu sein. Das liegt nicht nur am gestiegenen Risiko, von einer Kamera festgehalten oder von überaufmerksamen Beobachtern bloßgestellt zu werden, sondern auch daran, daß es heute (neben bezahlter Prostitution) in Form zahlreicher Online-Plattformen neue Möglichkeiten zu schnellem und sicherem Sex gibt. Das gilt sowohl für die Hetero- als auch für die Homosexuellenszene, so Sebastian: "Das Aufrißverhalten hat sich durch das Internet bei allen verändert. Hat man früher schnellen anonymen Sex gesucht, ist man an Orte gegangen, wo man Gleichgesinnte zu treffen hoffte. Heute sucht man im Internet. Hat man dann Lust auf den besonderen Kick, es im öffentlichen Raum zu treiben, verabredet man sich an einem Ort, der aber nicht unbedingt einer dieser traditionellen Treffpunkte sein muß. Man sucht sich irgendeinen Park oder eine versteckte Straße. Daraus ergibt sich aber auch, daß die traditionellen Treffpunkte wie zum Beispiel die Parkplätze beim Ölhafen, vor allem von internetaffinen Jungen, die früher aus Geilheit diese Orte frequentiert hatten, nicht mehr besucht werden. Übrig bleiben die weniger mobilen, meist Älteren, was auch den Frust einiger Leute erklärt."

Diese Entwicklungen haben auch das Verhalten von Frank beeinflußt - er hat sich mit den Problemen seiner Zeit arrangiert und seine Interessen verlagert. Ab und zu geht er noch in Swingerclubs, aber draußen legt er sich nicht mehr auf die Lauer: "Wozu? Was mich interessiert, ist schon alles ruiniert." Doch dann holt er noch einmal aus: "Sexualität ist ein elementarer Bestandteil des Daseins. Nur Essen und Trinken - dann ist man ein Viech. Nur Geld - das ist noch schlimmer. Sex ist eine eigene Kraft, die die niederen Instinkte natürlich in sich trägt, aber eben noch etwas, was ich als Zauber bezeichne, etwas, das sich nicht beschreiben läßt, etwas Metaphysisches, das darüber schwebt. Lust ist für mich wie Kunst, etwas Unaussprechliches: es ist da, und es ist auch nicht da. Alle freuen sich, und niemand ist enttäuscht. Im Swingerclub ist dieser Weg asphaltiert und deswegen einfach, da kennt sich jeder aus. Wenn wer nicht brav ist, bekommt der Lokalverbot auf ewig, und davor haben die Gäste Todesangst. So halten sie sich zwangsläufig an die Etikette, was sie im öffentlichen Raum oft nicht tun. Aber im Dschungel, wo man die Gesetze selbst erkennen und achten muß, ist es dennoch ungleich spannender. Das ist eine undefinierte Zone, in der man sich zurechtfinden muß. Und die, die sich drüber aufregen, sind meistens die, die zwischen ihren Beinen Spinnweben besitzen. Niemand vergönnt jemand anderem etwas. Ich hatte vor kurzem eine Bindehautentzündung und bin tagsüber in einem Park mit Spielplatz gesessen. Da kam ein junges Pärchen und schaukelte auf der Schaukel, schmuste ein bißchen herum und lachte. Was man da gesehen hat, war pure junge Lebensfreude - kein Funken Bösartigkeit. Aber dann ist ein alter Herr dahergekommen und hat sich aufgeregt - nur, weil er frustriert war, daß er schon lange keine Frau mehr gehabt hat und gar nicht mehr weiß, was Spaß heißt, à la: 'Was ich nicht hab´, soll jemand anderer schon gar nicht haben.

Man hat ja Ohren auch, nicht nur Augen, und ich wohne mittlerweile schon lange Zeit in einem Zinshaus. Ich habe schon viele Parteien kommen und gehen sehen, und da war genau dieselbe Entwicklung, die 2003 gekippt ist: Genau bis zu dem Jahr haben sie in der Nacht noch im Stiegenhaus gefickt, und man hat sie durch die Wände gehört, wie sie Spaß aneinander und miteinander gehabt haben. Seit 2003, scheint es, würden sie sich lieber die Stimmbänder ohne Narkose rausreißen lassen, als einen Ton zu machen. Sie leben wie in konstanter Angst vor der Sittenpolizei. Das ist ein absurder Zustand: Im Internet diskutieren sie über ihr letztes Wimmerl im Darm, als ob das niemand sehen würde, und als ob sie in der 'Cloud' irgendeine Art der Kontrolle hätten. Gleichzeitig schotten sie sich so extrem ab, als ob sie alle Mini-James-Bonds in permanenter Bedrohung wären und nicht einmal mehr alltägliche Sachen zelebrieren könnten. Das einzige, was ich nicht verstehe - und das hat nichts mit Heimlichtuerei zu tun, aber es gibt Sachen, die nur für dich bestimmt sind, die gehen die andern einen Scheißdreck an: Woher kommt diese freiwillige Outing-Geilheit? Wo ist die Belohnung für sämtliche persönlichen und privaten Informationen?"

Für Frank ist diese Entwicklung im Sexualverhalten "nur der Eisberg für die Gesellschaft, und es ist äußerst raffiniert, wie sich das auf das Gesamtverhalten auswirkt - auch auf das eigene. All das, was die Leute anstreben, ist im Grunde vorhanden. Wozu Ersatzartikel jagen, also Konsumartikel? Das sind nur Ersatzbedürfnisse. Das Handy z. B. ist das, was Huxley als 'Soma' bezeichnet, Massenhypnose. Ich meine, nehmen wir einmal hundert 16- bis 25jährigen ihr Handy weg. Das ist, als würde man ihnen ein Stück aus ihrem eigenen Körper reißen. Die wissen dann nicht mehr, was sie plötzlich mit sich anfangen sollen, wenn diese Ablenkungsmanöver nicht mehr greifbar sind. Die Wirtschaft setzt auf Ersatzhandlungen und ist in dem Fall mächtiger als die Politik. Ovid beschreibt in seinen 'Metamorphosen', daß niemand dem anderen um etwas neidisch war, deswegen hat man auch keine Richter, keine Polizei, keine Gewalt gebraucht. Eben, weil alles, was man fürs Paradies braucht, schon da ist. Aber wenn man Wohlbefinden - und da gibt es unendlich viele Spielarten - wegnimmt, was heißt das für die Gesellschaft? Das sollte man sich überlegen. Glückliche Menschen sind schwerer zu regieren als unglückliche und frustrierte."

aus: Rokko´s Adventures #18

Text: Rokko

Photos: Klaus Pichler

 

Dieser Artikel basiert auf Recherchearbeiten, die im Zuge des Verfassens eines Katalogbeitrag für die Ausstellung "Sex in Wien: Lust. Kontrolle. Ungehorsam" im Wien Museum durchgeführt wurden.

Akzente_ Winterpause 2020/21

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Die letzten Tage der Menschheit ...

... sind auch heuer wieder nicht angebrochen. Unser wohlverdienter Neujahrsurlaub hingegen schon.

Schon wieder ist ein Jahr vergangen - höchste Zeit, kräftig durchzuatmen. am besten ohne Maske im Eigenheim. Wir nützen die Gelegenheit und lassen unsere Tastaturen für ein paar Wochen abkühlen.

Sollten Sie trotzdem Neugier auf lesenswerte Beiträge zum Thema Popkultur und -geschichte verspüren, durchstöbern Sie bitte unsere umfangreichen Archive. Es lohnt sich garantiert.

Was Sie dort unter anderem finden werden?

 

  • Die wirklich wunderbare Aufarbeitung zum Thema "Schmutz und Schund" aus der Feder unseres geliebten Dr. Trash: A Private Education.
  • Eine Abhandlung über Trash-Filme von Christian Kessler höchstpersönlich: Tout pour le Trash!
  • Emmerich Thürmers historischen Ausflug ins Reich des Calypso: Calypso is everywhere.

 

Sollte Ihnen das auch noch nicht reichen: Erfahren Sie mehr über Sun Koh, Kabelismus,  das Wirtshaussterben in Österreich oder begleiten Sie Manfred Wieninger auf seiner Reise in die Heimat des Grafen Dracula.

 

Wir wünschen Ihnen einen guten Rutsch und ein phantastisches neues Jahr. Lassen Sie sich ja nicht unterkriegen!

 

Ihre

Print_ Klaus Ferentschik - Ebenbild

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Doppelgänger-Phantasie

In seinem neuen Roman erzählt Klaus Ferentschik von Spionen, verschwundenen USB-Sticks, Hagelkörnersammlern und Eisleichen. Das Ergebnis ist ein philosophisch-psychologischer Agententhriller, der mehr als doppelbödig daherkommt.

Handelte es sich bei seinen vorangegangenen beiden Büchern um literarische Miniaturen (Kalininberg & Königsgrad sowie Bisquitkrümel; beide im Berliner Verlag PalmArtPress erschienen), so liefert Klaus Ferentschik nun mit dem Roman Ebenbild einen "Agententhriller mit tiefenpsychologischer Bedeutung". Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist ein Genuß, diesen Roman zu lesen, und zwar in allen Belangen. Das Buch ist spannend, steckt voller unvorhergesehener Wendungen, liest sich stilistisch brillant, enthält viele Sprachspielereien und versteckte Reime, jede Menge Humor und Tiefe - sodaß es ziemliche Schwierigkeiten bereitet, zwischendurch mit der Lektüre aufzuhören und das Werk angeblich dringenderer Dinge wegen wegzulegen. Dazu kommen, typisch für den Pataphysiker Ferentschik, Anspielungen, Aphorismen, Sprüche, Dialoge und verborgene Verweise. Als eine Art Motto könnte der Satz auf dem Rückencover dienen: "Immer alle vorstellbaren und unvorstellbaren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in alles Denken, Tun und Lassen einbeziehen."

 

 

Eine "Liste aller im Roman vorkommenden Menschen & Tiere" mit kurzen Beschreibungen noch vor dem eigentlichen Beginn bereitet auf den phantasiereichen Inhalt vor und gibt von Anfang an darüber Aufschluß, was den geneigten Leser erwarten könnte. Darunter finden sich natürlich auch die Protagonisten:

 

Motorradbote - ständig auftragsmäßig unterwegs mit seiner besonders für den Stadtstraßenverkehr bestens geeigneten Geländemaschine

Meteorologe - auch Hagelkörnersammler und Schloßenforscher, weiß viel von allseitigen Irrtümern und vom fröhlichen Scheitern

Kioskfrau - zusätzlich studierte Seelenkundlerin mit geübtem Gespür für fast alle Unbilden menschlicher Innenwelten

Das Ebenbild - hat im äußerlichen Aussehen frappante Ähnlichkeiten mit dem Motorradboten, ist aber im Innersten völlig verschieden

Meteorologenfreundin - reist eigens aus dem tiefsten Gletschergebiet an, wirkt beim entscheidenden Schliff emsig mit und berichtet von einer Eisleiche


Wo es Protagonisten gibt, gibt es auch Antagonisten. In diesem Fall sind es gleich mehrere Personen - und das Wetter!

Zur (vordergründigen) Handlung: Ein Kurier, berufsmäßig mit seinem Motorrad unterwegs, um Aufträge auszuführen, soll für einen Meteorologen eine Tasche abholen, wobei es zu einer Verwechslung kommt. Der Auftraggeber erhält statt der erhofften Lieferung eine gleich aussehende Tasche mit einem USB-Stick, verweigert dessen Annahme und fordert den Boten auf, beides mitzunehmen. Agenten sind hinter dem Stick her, benötigen ihn anscheinend unbedingt, schrecken vor nichts zurück und gelangen dank der Taschenverwechslung an die Adresse des Meteorologen, gleichzeitig Sammler überdimensionaler Hagelkörner. Beide, Meteorologe und Bote, werden zu gesuchten Objekten der Ganoven. Der Kurier überlebt knapp einen Überfall und trifft eines Tages an einem Kiosk auf einen Mann, der ihm äußerlich aufs i-Tüpfelchen gleicht. Er bietet seinem einkommensschwachen Ebenbild an, als Bote gegen Bezahlung bei ihm zu arbeiten, mit gleichem Motorrad und gleicher Montur. Diesen Plan hält seine Freundin, die Besitzerin des Kiosks, für großartig, wobei sie übersieht, daß Agenten auch zwei Männer gleichzeitig beschatten können, um an ihr Ziel zu gelangen. Es kommt zu Verfolgungen und Verwechslungen; die Beteiligten wissen nicht immer, wer wer ist - bis die Bedrohungen derart überhandnehmen, daß eine endgültige Wendung eintreten muß, um das Schlimmste zu verhindern.

Ebenbild ist ein abwechlungsreicher, höchst kurzweiliger Agententhriller, angereichert mit Gesprächen am Tisch vor dem Kiosk, wo beim Feierabendbier der Kurier und sein Ebenbild philosophischerweise ihre eigenen, teils widersinnigen Ansichten vertreten und darüber die drohende Gefahr zu ignorieren scheinen.

Klaus Ferentschik - Ebenbild

PalmArtPress, 180 Seiten, Berlin 2023