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Musik_ Giulinis 100. Geburtstag und superbe Neuheiten

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Ein großer Jubilar

Anläßlich des 100. Geburtstags von Maestro Carlo Maria Giulini und einer aufsehenerregenden Label-Präsentation der Berliner Philharmoniker kommt der EVOLVER-Klassikexperte nicht umhin, sich auch nach anderen Neuheiten umzuhören. Und muß feststellen, daß die führenden Orchester sich immer mehr auf ihre eigenen Labels verlassen statt auf die Promotion-Abteilungen der großen Tonträgerfirmen ...

Über Carlo Maria Giulini zu berichten ist fast müßig; die meisten Klassik-Fans kennen den unsterblichen Maestro, der am 9. Mai 2014 seinen 100. Geburtstag begangen hätte. Giulini war einer der stillsten und gleichzeitig besten Dirigenten und wurde von prominenten Sängern, Solisten und Orchestermusikern ebenso geschätzt wie vom Publikum. Zu seinem Ehrentag brachten Sony eine 22-CD-Box mit dem Titel The Complete Sony Recordings und die Deutsche Grammophon die 15-CD-Box Giulini in Vienna heraus, die ein paar der wichtigsten Stationen des Maestros hören lassen. Trotz der zeitweise verwaschenen Aufnahmetechnik erahnt man auch über die Lautsprecherboxen, was für ein Titan Giulini war und noch immer ist. So sind die letzten drei Bruckner-Symphonien mit ihm und den Wiener Philharmonikern immer noch zeitlos. Unvergeßlich war auch damals das Live-Konzert 1984 mit der 8. Bruckner, bei dem die Zeit regelrecht stillstand.

Ebenfalls von der Deutschen Grammophon stammt die Neuerscheinung der vier Symphonien von Robert Schumann mit dem Chamber Orchestra of Europe unter dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin. Der sogenannte "Senkrechtstarter" ist mittlerweile der dritte Teil des Trios Andris Nelsons, Gustavo Dudamel und eben Séguin. Diese drei Pseudo-Ekstatiker zeichnen sich durch ihr aufgesetztes Gehabe aus; übrig bleibt nach getanter Arbeit nicht selten eine gehörige Leere. So auch bei der Schumann-Aufnahme: Derart virtuos gespielt und trotzdem uninteressant hat man diese Symphonien noch selten gehört. Der Dirigent lobt sich zwar selbst, das Orchester so besetzt zu haben, daß eine gleichwertige Balance zwischen den Orchesterstimmen (Bläser und Streicher) hörbar sei. Schade, daß er dabei gewisse Nebenstimmen, Akzente und Steigerungen vergessen hat ...

Mit Schumann eröffnen die Berliner Philharmoniker ihr CD-Label gleich äußerst hochwertig. In einer wunderschön aufgemachten Box bekommt man die Audio-CDs, die Blu-ray, einen Download-Code für die Audiofiles und noch einen 7-Tage-Voucher für die "Digital Concert Hall" des Orchesters. Unter seinem Chefdirigenten Sir Simon Rattle spielt das Orchester alle vier Symphonien des deutschen Romantikers Schumann, darunter die 4. Symphonie (leider) in der Fassung von 1841. Schumann wird schon gewußt haben, warum er das Werk völlig umgearbeitet und erst 1851 uraufgeführt hat. Gerade der Übergang vom 3. zum 4. Satz, der allein die vier Symphonien rechtfertigt, klingt in der 1841er-Version wie eine Studie - unbeholfen und uninteressant. Rattles Zugang zu Schumann ist ein spätromantischer, leider manchmal ein bißchen zu "weichzeichnerischer". Auch wenn seiner Schumann-Interpretation (vor allem der 2. Symphonie!) ein Spitzenplatz gebührt, kann sie niemals mit jenen von Karajan, Giulini und Bernstein mithalten. Diese drei Dirigenten haben die Latte dafür aber auch unerreichbar hoch gelegt.

Interessant und absolut hörenswert ist das Label Signum Classics, das Produktionen des Philharmonia Orchestra London präsentiert. Das Spitzenorchester aus London bringt fast im verborgenen großartige Aufnahmen heraus; unter anderen eine Richard-Strauss-CD mit Christoph von Dohnany und vor allem einen ganzen Zyklus der Mahler-Symphonien unter Lorin Maazel. In drei Boxen mit jeweils drei Symphonien wird dieses "Ereignis" veröffentlicht. Die erste ist Ende 2013 erschienen, die zweite kommt jetzt im Mai 2014 auf den Markt, gegen Weihnachten dieses Jahres soll der Zyklus mit der dritten Box abgeschlossen sein. Schon die ersten drei Symphonien machen süchtig nach Maazels Mahler-Deutung. Nachdem Sony in den 80er Jahren nicht imstande war, die Gesamtaufnahme mit den Wiener Philharmonikern aufnahmetechnisch ordentlich zu produzieren, gelingt dies Signum bis jetzt umso besser. Und Maazels Mahler kann sich immer noch hören lassen - der großartige Maestro hat bei dem österreichischen Komponisten außer Leonard Bernstein, Sir Georg Solti und Giiuseppe Sinopoli auch keine Konkurrenten zu fürchten.

Das Label LSO Live ist auch wieder mit einer interessanten Neuerscheinung vertreten; diesmal mit dem "Deutschen Requiem" von Johannes Brahms. Mit den phantastischen Solisten Sally Matthews und Christopher Maltman überzeugen die Londoner Musiker unter ihrem Chef Valery Gergiev sehr. Sind auch manche Tempi hier recht überzogen schnell, so überwiegt immer noch der äußerst positive Gesamteindruck. Neugierig darf man auch auf Dmitri Schostakowitschs Symphonien 4 bis 6 sein, die demnächst mit dem Mariinski-Orchester unter Gergiev erscheinen sollen.

Resümierend kann man sagen, daß die Orchester-Label und die -Apps die konventionellen Tonträgerkonzerne sehr bald in den Hintergrund drängen werden. Das haben die Plattenfirmen auch ihrer Politik zu verdanken, weil sie schon seit geraumer Zeit die führenden Orchester mehr oder minder ignorieren. Die Direktvermarktung ist für die Musiker oft der einzige Ausweg aus einer unangebrachten Abhängigkeit von den Plattenproduzenten. Und - wer weiß - vielleicht wachen ja sogar einmal die Wiener Philharmoniker aus ihrem Dornröschenschlaf auf und versuchen auch diesen Weg?

Robert Schumann - The Symphonies

ØØ 1/2
Gesamtaufnahme der Symphonien

Chamber Orchestra of Europe/Yannick Nézét-Séguien

 

D 2014/Deutsche Grammophon (Universal)

Robert Schumann - Symphonien 1-4

ØØØØ 1/2
Symphonien in Bild und Ton

Berliner Philharmoniker/Sir Simon Rattle

 

D 2014/Berliner Philharmoniker Recordings

Giulini in Vienna

ØØØØØ
Aufnahmen mit Giulini aus seiner Wiener Zeit

Werke von Anton Bruckner, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahmes, Giuseppe Verdi u. a.

 

Wiener Symphoniker & Wiener Philharmoniker/Carlo Maria Giulini

 

D 2014/Deutsche Grammophon (Universal)

Gustav Mahler - Symphonien Nr. 1-3

ØØØØØ
5-CD-Box

div. Solisten und Chöre

 

Philharmonia Orchestra London/Lorin Maazel

 

GB 2014/Signum Classics

Richard Strauss - Orchesterwerke

ØØØØØ
Till Eulenspiegel, Ein Heldenleben

Philharmonia Orchestra London/Christoph von Dohnanyi

 

GB 2014/Signum Classics

Brahms - Ein Deutsches Requiem

ØØØØØ
Totenmesse in 7 Sätzen

Sally Matthews, Christopher Maltman

 

London Symphony Chorus

London Symphony Orchestra/Valery Gergiev

 

GB 2014/LSO Live

Carlo Maria Giulini - The Complete Sony Recordings


22-CD-Box

div. Orchester und Solisten/Carlo Maria Giulini

 

D 2014/Sony Classical


Print_ Lee Child - Wespennest

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Gegen alle Übeltäter dieser Welt

Jack Reacher sucht keinen Streit. Falls er ihn allerdings findet, was mit schöner Regelmäßigkeit geschieht, kämpft er bis zum bitteren Ende - und zwar dem seiner Gegner.

"Wespennest", der inzwischen 15. Reacher-Roman des Autors Lee Child, setzt nahtlos dort an, wo der Vorgängerband "61 Stunden" quasi offen endete. Quasi deshalb, weil´s nicht wirklich ein offenes Ende war. Die eigentliche Geschichte wurde zu Ende erzählt, einzig eine Frage blieb: Hat Reacher die Explosion im Bunker überlebt oder nicht?

Natürlich hat er. Mit fürchterlichen Muskelzerrungen zwar, aber die halten ihn nicht von seinem Vorhaben ab, der netten Telefonstimme, die ihm über "61 Stunden" hinweghalf, nach Virgina zu folgen.

Mittlerweile ist er bis Nebraska gelangt, wo er sich zu später Stunde in einem ablegenen Kaff, in dem es nichts weiter gibt als öde Farmen und ein noch öderes Motel, ein Zimmer für die Nacht genehmigt. Dummerweise betrinkt sich an der Motelbar gerade der Dorfarzt, der jegliche Hilfe verweigert, als er zu einer kranken Frau gerufen wird. Also zwingt Reacher den Arzt zur Visite. Beim Anblick von Eleonor Duncan zeigt sich, daß ihrem Ehemann Seth nicht zum ersten Mal die Hand a ausgerutscht ist. Reacher stattet dem Schläger im örtlichen Steakhouse einen Besuch ab und bricht ihm die Nase. Das wiederum ruft Seths Vater und dessen Brüder auf den Plan - die Familie Duncan, die seit Jahrzehnten über den Ort herrscht und eine solche Einmischung keinesfalls akzeptieren darf. Deshalb hetzt sie Reacher gleich ein paar stiernackige Schlägertypen auf den Hals.

Ein großer Fehler.

 

An dieser Stelle darf die Frage erlaubt sein, weshalb Reacher sich überhaupt in das Ehedrama einmischen mußte. Oder warum er der mißhandelten Frau nicht anderweitig helfen konnte. Oder auch, wieso er - nachdem er ihrem Mann eine ordentliche Abreibung verpaßt hat - nicht einfach seine Zahnbürste eingepackt hat und weitergereist ist, seinem eigentlichen Ziel in Virgina entgegen.

Doch erstens ist Reacher durch und durch ein Gutmensch und zweitens lebt er in einer Welt, "in der man keinen Streit suchte, aber jeden Kampf, der einem aufgezwungen wurde, zu Ende brachte - siegreich beendete -, und war der Erbe einer über Generationen hinweg durch bittere Erfahrungen erworbenen Erkenntnis, daß man einen Kampf am schnellsten verlieren konnte, wenn man ihn für vorzeitig beendet hielt".

Also nimmt er den Kampf auf, der mit fortschreitender Zeit immer größere Kreise zieht, denn Reacher hat - nomen est omen - in ein wahres Wespennest gestochen. Im abgelegenen Nebraska nämlich steht die Familie Duncan nur am Anfang einer langen Nahrungskette, deren kriminelle Glieder durch Reachers unerbittliches Auftreten nun der Reihe nach auf den Plan gerufen werden.

Das wiederum hat etwas von einer Screwball-Komödie. Es wirkt fast witzig, wie die verschiedenen Gaunerparteien aus Las Vegas, Libyen und dem Iran im fremden Farmersland verzweifeln, sich gegeneinander ausspielen - und zu guter Letzt von Reacher ausgeschaltet werden, der trotz aller Blessuren, die er sich zuzieht, mit überraschendem Humor taktiert. Oder sollte man sagen: Galgenhumor?

Zum Beispiel, als er auf das erste Hindernis trifft - einen großen Mann, "fast so groß wie Reacher selbst, aber viel jünger, vielleicht etwas schwerer, mit gewisser primitiver Intelligenz im Blick. Kraft und Hirn. Eine gefährliche Kombination. Reacher bevorzugte die gute alte Zeit, in der Muskelmänner dumm gewesen waren. Daran war das heutige Bildungssystem schuld. Daß man Sportler dazu zwang, Vorlesungen zu besuchen, hatte seinen genetischen Preis."

Die Welt, durch die sich Reacher bewegt, mag sich verändert haben. Das hat sein Schöpfer bereits in früheren Abenteuern thematisiert, in denen der Held fassungs- und ahnungslos vor neuer Technik steht, die zugleich auch neue Bedrohungen bedeutet. Gleichwohl hat sich Reachers Welt keinen Deut geändert: Er ist und bleibt Ermittler, Richter und Henker in Personalunion. Damit mag er, während er die Übeltäter der Reihe nach ins Jenseits befördert, einer fragwürdigen Moral folgen - andererseits erweist sich diese nach wie vor als das probateste Mittel gegen alle Übeltäter dieser Welt.

"Reacher war von Experten ausgebildet worden, die einem so schnell das Genick brechen konnten, daß man erst merkte, was passiert war, wenn man mit dem Kopf nickte und ihn ganz allein die Straße davonrollen sah."

Und irgendwie verzeiht man Reacher diese erbarmungslose Härte, denn erstens erwischt er nur die, die es sowieso verdient haben. Und zweitens hat genau das bei ihm immer wieder einen großen Unterhaltungswert.

Lee Child - Wespennest

ØØØØ
(Worth Dying For)

Blanvalet (D 2014)

Kolumnen_ Miststück der Woche III/Spezial

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Die gute alte Zeit - Teil 7


Manfred Prescher ist auf Kur und heilt die Wunden, die die Zeit - oder was auch immer - ihm geschlagen haben. Zur Überbrückung hat er sieben Miststücke ausgewählt, die die Evolution der Kolumne seit 2005 repräsentieren. Dieses Mal: Robin Thicke feat. T.I. & Pharrell mit "Blurred Lines".

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Also, es geschehen echt noch Zeichen und Wunder! An jenem Abend im August begegnete mir zum Beispiel der leibhaftige Wolfgang Amadeus Mozart. Wir redeten ein Viertelstündchen miteinander über Gott und die Musikwelt, vor allem aber über Sommerhits, speziell die des 2013er-Jahrgangs. Richtig gefallen haben die dem Genie nicht. Er erzählte außerdem, daß er an einem Werk arbeite, das Michael Jacksons "Thriller" in den Schatten der Popgeschichte stellen könnte. Es sieht allerdings derzeit so aus, als würde Jacko dem halt doch schon betagten Österreicher zuvorkommen. Angeblich wird demnächst ein neues Werk von Jackson veröffentlicht. Es soll dem Vernehmen nach "Xscape" heißen. Wir sind natürlich gespannt darauf. Schön wäre es, wenn mir Mozart nochmal begegnen würde. Ich stelle mir vor, wie wir uns die Dr.-Dre-Kopfhörer teilen und Ohr an Ohr lauschen, was uns Jackson aus der Gruft heraus vorsingt. Und dann wird Wolferl wahrscheinlich wortreich weissagen, daß der "Scheiß" wie geschnitten Brot verkauft werden wird.

 

 

Robin Thicke feat. T.I. & Pharrell: "Blurred Lines"

Letzte Woche stellte Manfred Prescher die Frage, was "Blurred Lines" mit Wolfgang Amadeus Mozart zu tun hat. Die Antwort ist einfach: Der alte Meister würde bessere Sommerhits schreiben. 

Zum Original-"Miststück"

 

Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Robin Thicke feat. T.I. & Pharrell: "Blurred Lines"


(Miststück der Woche III/47)

Enthalten auf der gleichnamigen CD (Interscope/Universal)

Stories_ Rokko´s Adventures im EVOLVER #70

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Underground Think Tank


Er ist mit Crispin Glover befreundet, pfeift auf Boyd Rice und macht niemals Filme über Menschen, die er verachtet. Rokko wollte Genaueres wissen und traf Larry Wessel zum Gespräch.

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Larry Wessel ist ein Underground-Filmemacher aus Kalifornien, der seit jeher auf randseitigen Klippen spazierengeht. Vor seine Linse holt er Gestalten wie Boyd Rice, Adam Parfrey, The Mentors, Jesus-Freaks, Toreros und Transvestiten. Diesmal stellt Team Rokko ihn ins Rampenlicht: Lesen Sie hier den ersten Teil.

 

 

Boiled Shice?

 

Wessels bisher letzte und ambitionierteste Filmarbeit trägt den Titel "Iconoclast" und stellt das ewige Terrorkind Boyd Rice in den Mittelpunkt. Zu dieser Zusammenarbeit kam es, da Rice von Wessels Filmarbeiten begeistert war und ihn fragte, ob er eine Doku über ihn machen wollte, worüber Wessel nicht lange nachdachte. Sechs Jahre arbeitete er daran, 200 Stunden Filmmaterial galt es zu schneiden. Herausgekommen ist ein vierstündiger Marathon von Rices Aufwachsen in Lemon Grove, seiner Tiki-Obsession sowie seinen Bekanntschaften wie Cpt. Beefheart, Charlie Manson, Adam Parfrey, Anton LaVey und Tiny Tim. Was Wessel an Rice gefällt, ist sein kontroverses Wirken: daß er die eine Hälfte zum Lachen bringt - und die andere, wahrscheinlich größere, zum Schreien, zur Fassungslosigkeit und zu einem Haß, den sie dann ihm vorwerfen.

Was sich mit der Fertigstellung von "Iconoclast" geändert hat? Rice und Wessel reden nicht mehr miteinander: Rice stellte Wessel plötzlich das Ultimatum, entweder er würde sein Freund bleiben oder der von Giddle Partridge - beides ginge sich nicht aus. Daraufhin richtete Wessel Herrn Rice ein herzliches FUCK YOU aus, und das war´s. Giddle Partridge und Rice waren mehr als 20 Jahre beste Freunde, doch als sie sich mit einem anderen Mann verlobte, war er so gekränkt, daß er ihr die Freundschaft kündigte und auch musikalische Zusammenarbeiten einstellte, die gerade in Gang waren. Diese kindisch-gekränkte Reaktion paßt zu jenem Frauenbild, das Rice in "Iconoclast" erklärt. In einer Sequenz ist die Rede über Hawerer von Rice, die mit Frauen zusammen sind, die eigentlich ihre Töchter sein könnten - Tiny Tim, Anton LaVey und Charles Manson. Rice läßt Zitate von Mr. Tiny und Manson los, in denen es darum geht, man müsse Frauen wie Hunde trainieren und ihnen als kleiner Führer die richtige Richtung zeigen. Na wuff ... vielleicht noch das Mutterkreuz und die Wewelsburg in die Mitte der Weltkarte setzen?

Ob das Arbeiten mit Rice automatisch zum Streit führen muß? "In meinem Fall ist es auf jeden Fall so gewesen. Boyd vertraute mir und sagte mir, ich wäre sein bester Freund, das Telefon läutete so gut wie jeden Tag. Diese 'Freundschaft' währte sechs Jahre - genau bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Doku fertig war. Just am Tag nach der Red Carpet World Premiere in Quentin Tarantinos New Beverly Cinema in Hollywood hörte das Telefon plötzlich auf zu läuten." Wie er nach sechs Jahren Zusammenarbeit Rice einordnen würde? "Ein einsamer, kaltherziger, prätentiöser, hypokritischer Soziopath." Ob er je mit anderen Leuten, die vor seiner Linse standen, Probleme hatte? "Nie. Die Leute lieben es, in meinen Filmen zu sein. Ich mache nie Filme über Leute oder Dinge, die ich verachte. Das überlasse ich Skandalmachern wie Michael Moore und dem ganzen anderen Scheiß, den du im Fernsehen siehst, versehen mit dem Label 'laugh at a loser'."

 

 

V Vale und Andrea Juno, die hinter dem Verlag RE/Search stecken und schon vor langer Zeit mit Rice zusammengearbeitet haben (u. a. "Pranks!" und "Incredibly Strange Films"), haben sich auch mit ihm zerkracht. Ob Wessel je mit den beiden Kontakt hatte? "Oja! Ich hatte Vale eigentlich kontaktiert, weil ich ihn in 'Iconoclast' haben wollte, und wir sprachen am Telefon miteinander. Vale erzählte mir, daß er jene Leute, die er in seinem Leben als Freunde bezeichnen würde, an einer Hand abzählen könnte. Und am Ende unseres etwa dreistündigen Telefonats sagte er, daß Boyd tatsächlich einer von seinen fünf Freunden sei, er aber nicht an der Doku teilnehmen könne, es sei denn, Boyd würde eine schriftliche Erklärung abliefern, daß er weder Mitglied einer rassistischen Gruppe noch mit einer verbunden wäre." ... was der aber nicht tun wollte oder konnte. "Vor der 'Iconoclast'-Premiere in San Francisco im Roxy besuchten Tora und ich Vale in seinem lauschigen North-Beach-Apartment, das gleichzeitig das RE/Search-Hauptquartier ist. Wir hatten einen gemütlichen Plausch, den er mit seinem Kassettenrekorder aufnahm." Wessel setzt nach einer kurzen Pause grinsend fort: "Und er war nicht unerfreut über meinen Streit mit Boyd."

Seine Freundschaft zu Crispin Glover allerdings ist eine konstante: Wessel bewundert dessen schauspielerische Leistungen - besonders aber jene als Regisseur. "Ich stehe sogar in den Credits seines surrealistischen Meisterwerks 'What Is It?', das für mich in einer Reihe mit 'Un Chien Andalou', 'Freaks' und 'Auch Zwerge haben klein angefangen' steht. Er hat mir deswegen gedankt, weil ich in seinem Think Tank war: Er hat mich und andere Think-Tank-Mitglieder in sein wunderbares Haus in den Hügeln über Silverlake eingeladen, um jeden einzelnen Schnitt seines Glanzstücks zu besprechen. Und das ging viele Jahre so!"

Glover hat sich in den vergangenen paar Jahren einen Zweitwohnsitz in Europa aufgebaut - in einem Schlößchen unweit von Prag. Auch Wessel plant, mit seinem Herzikratzi Tora nach Schweden zu ziehen. Trotz der Verarbeitung der kalifornischen Kultur in seinen Filmen hat er seine größten Fans in Europa. "In den USA werde ich fast gänzlich ignoriert, was mir aber ziemlich egal ist. Woody Allen hat einmal angemerkt, daß der einzige kulturelle Vorteil des Lebens in Kalifornien der ist, daß man hier bei Rot rechts abbiegen darf!"

Doch noch hat er nicht mit seiner Heimat abgeschlossen. "Jede Doku erfordert Jahre und Jahre, in denen ich Material sammle. Meine erste digitale Kamera habe ich 1999 gekauft - und mit ihr habe ich bereits das Material für drei weitere gesammelt. Die eine ist über obsessive Sammler, die andere über die unglaubliche Künstlerin Beth Moore-Love, die dritte eine Fortsetzung von 'Ultramegalopolis'. In der Doku über die Sammler spielt der großartige Photograph Michael Montfort die Hauptrolle, der die letzten 15 Jahre von Charles Bukowski sein bester Freund war und eine der weltweit größten Bukowski-Sammlungen hat: rare Bücher, Gemälde, Skizzen, Manuskripte und aberhunderte faszinierende Fotos. Wenn du auf die letzte Seite eines Bukowski-Buches siehst, wirst du neun von zehn Mal ein Foto von Montfort sehen. In der Doku ist außerdem ein Interview mit Buks Witwe Linda."

 

Bukowski wurde ebenso vom kalifornischen Wahnsinn gefüttert und spuckte ihn, verdaut und in Buchstabenform gegossen, in genialischer Weise wieder aus. In Europa wäre ihm schon längst - aber mit Sicherheit erst nach seinem Tod - ein Denkmal gesetzt worden, das er selbst verachtet hätte. Doch in Los Angeles, der schnellebigen Glitzerstadt, hat man keine Zeit für so etwas, nicht wahr? "Glaub es oder nicht, aber die Stadt Los Angeles hat gerade ihre erste historische Sehenswürdigkeit deklariert: Charles Bukowskis Hollywood-Apartment in der DeLongpre Avenue, wo er 'Post Office' geschrieben hat!"

Los Angeles wird alt. Es ist Zeit, zu gehen ...

 

 

Epilog: Nachdem dieser Artikel fertig verfaßt worden war, tauchten harte Gerüchte um Tora und Larry Wessel auf: sie behauptete, er hätte sie krankenhausreif geprügelt; er sagte aus, sie habe seine 83jährige Mutter verdroschen. Die Szene spaltete sich auf. Tora+Larry gibt es nicht mehr: Tora ODER Larry hieß die Entscheidungsfrage. Wer jetzt wirklich der Beidl/die Muschi ist von den beiden, bleibt derweil offen. Tora war zu keinem Statement bereit, Larry hingegen meinte: "Unfortunately for legal reasons I am not allowed to say anything right now. However, I might suggest that at the end of the current interview you make a dramatic announcement about 'Larry Wessel Interview Part Two: Divorce American Style'.

Once my divorce is finalized I am going to want to discuss all the gory details with you. Until then, I must remain silent."

aus: Rokko´s Adventures #11


(erschienen im Juli 2012)

Text & Interview: Rokko

Fotos: © Wesselmania

Watchlist

Alle Filme von Larry Wessel können bestellt werden unter www.wesselmania.net

 

"Taurobolium" (1994): Stierkämpfe in Tijuana

"Sugar & Spice" (1995): Transvestiten, Drag-Queens und Transsexuelle

"Carney Talk" (1995): Robert Williams erzählt über Sideshow Freaks, Benzedrin und seltsame Einlagen mit abgeranzten Huren.

"Ultramegalopolis" (1995): Zweieinhalbstunden-Marathon über den krankhaft geilen Moloch Los Angeles

"Tattoo Deluxe” (1995): Tatü Tata Tattoo!

"Sex, Death & The Hollywood Mystique” (1999): James Dean, Charles Manson,Horrorwood, Karloffornia

"Song Demo for a Hellen Keller World" (1999): über die Erektion von Blinden

"Hollywood Head Bash" (2008): 1991 gedrehtes, aber erst 2008 veröffentlichtes Material über The Mentors!

"Iconoclast" (2011): über Boyd Rice, Scherzkeks und Finstermann vor dem Herrn

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Schmauchspuren #22

Krimis müssen keine Kunst sein - meistens lesen sie sich sogar besser, wenn sie es nicht sind. Daß sie aber im Künstlermilieu so gut funktionieren können wie im Porno- oder Polizeigewerbe, freut unseren Genre-Experten Peter Hiess.

Seitenweise

Jonathan Santlofer - Der Todeskünstler/Farbfehler/Tödliche Kunst

Parthas-Verlag 2007 & 2008

 

Manchmal erlebt man selbst als erfahrener Krimileser noch Überraschungen. Oder hätten Sie gedacht, daß ein "Kunstkrimi" nichts mit Feuilleton-Anbiederung zu tun hat, sondern daß es darin einfach um einen Plot in der New Yorker Kunstszene geht?

Santlofers Romane zerstreuen einschlägige Befürchtungen ohnehin schon nach den ersten Seiten: Die Trilogie um Kate McKinnon (ehemals Polizistin, heute Millionärsgattin, Kunstexpertin und Mäzenin) beginnt mit Der Todeskünstler und einer Mordserie, die nach Motiven berühmter Kunstwerke inszeniert ist. Da Kate einige der Opfer kennt (sie ist eine der Krimiheldinnen, die auf ihre nähere Umgebung wie Todesmagneten wirken ...), hilft sie der Polizei bei den Ermittlungen und geht mit viel Fachwissen und detektivischem Gespür auf die Jagd nach dem Täter.

In den folgenden Büchern Farbfehler und Tödliche Kunst - bitte in dieser Reihenfolge lesen! - entfernt sie sich mehr und mehr vom High-Society-Dasein und ermittelt gegen weitere Psychopathen. Und obwohl die Verbrecher bei Santlofer allesamt aus der lästigen Serienkiller-Ecke kommen, lesen sich seine Bücher keinen Augenblick lang gekünstelt (verzeihen Sie, es mußte sein), sondern sind hervorragend strukturierte, bis zum Schluß spannende und klug erzählte Kriminalromane, die man auch "Banausen" empfehlen kann.

Stefan Brijs - Der Engelmacher


btb/Random House 2009

Weniger strukturiert denn konstruiert ist Der Engelmacher des flämischen Schriftstellers Stefan Brijs, der uns wieder das Elend des europäischen Gegenwartskrimis in Erinnerung ruft: er will immer mehr sein, als er ist. Vielleicht hätte der Verlag das Buch ja auch nicht als Thriller anpreisen sollen - die Frankenstein-Story um den verrückten Wissenschaftler mit der Hasenscharte, der sich seinen Nachwuchs klont, ist eigentlich kein Krimi, sondern ein ländliches Sittenbild. Und wie das belgische Dörfchen im Dreiländereck Niederlande/Holland dargestellt wird, das ist typisch für Euro-Literatur: Derart bigotte, erzkatholische Provinznester existieren nur noch in der Phantasie von Subventionskünstlern.

Time for Hardcase Crime

Christa Faust - Money Shot

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2008

 

John Lange - Zero Cool

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2008

 

Wenden wir uns davon ab und wieder dem perfekt beherrschten Handwerk zu. Diesmal bietet uns die Ami-Pulp-Reihe Hard Case Crime mit Money Shot (geschrieben 2008) einen Abstecher in die moderne Pornoindustrie, Marke L. A.: Autorin Christa Faust kennt als Ex-Model und -Peep-Show-Tänzerin die Szene und läßt ihre Protagonistin, den ehemaligen Pornostar Angel Dare, in einer rasanten Story über das horizontale Filmgewerbe und importierte Sexsklaven jede Menge Coolness versprühen.

Das alles ist aber bestenfalls Tarantino gegen den locker-originellen Tonfall und die Dialoge von John Langes Zero Cool. Lange wußte bei Hard Case schon mit dem Taucher-Krimi "Grave Descend" zu begeistern und liefert mit seinem 1969 verfaßten Roman über einen amerikanischen Radiologen, der bei einem Besuch in Spanien mit einer ebenso verwickelten wie blutigen und amüsant erzählten kriminellen Verschwörung konfrontiert wird, ein wahres Meisterstück für Leute, die gern Sixties- und Seventies-Filme schauen.

George Pelecanos - Der Totengarten


rororo 2008

Ein weiterer Meister seines Fachs ist der griechischstämmige Amerikaner George Pelecanos, der von der Kritik nicht umsonst als einer der besten englischsprachigen Krimiautoren der Gegenwart gelobt wird. Seine in Washington, D. C. handelnden Werke sind ein dicht erzähltes und hochliterarisches Stück US-Zeitgeschichte, das den Vergleich mit James Ellroys Los-Angeles-Krimis durchaus rechtfertigt. Pelecanos´ neuer Roman Der Totengarten kommt als police procedural um die Suche nach einem als "Palindrom-Mörder" bekannten Killer daher, das Arbeit und Leben der Cops sehr realistisch darstellt. Daß der Autor auf dem deutschsprachigen Markt immer noch sträflich unterschätzt wird, hat wohl damit zu tun, daß Genre-Fans in unseren Breiten heutzutage auch im Fernsehen kriminellen Fantasy-Kitsch à la CSI mehr zu schätzen wissen als großartige Polizeiserien wie The Shield oder The Wire (bei der Pelecanos übrigens auch mitschrieb). Und das ist schade.

Reihenweise

Friedrich Glauser - Studer ermittelt/Wachtmeister Studer

Zweitausendeins/Marix-Verlag 2009

 

Léo Malet - Paris des Verbrechens

Zweitausendeins 2008

 

Zum Schluß noch der Verweis auf Krimiklassiker, die zu unschlagbaren Preisen neu aufgelegt wurden: zum einen die großartigen Wachtmeister Studer-Romane und -erzählungen des Schweizers Friedrich Glauser (1896–1938), die einmal vollständig gesammelt (Zweitausendeins) und ein andermal sozusagen als "Best of" (Marix) vorliegen; und zum anderen Léo Malets (1909–1996) berühmte Nestor-Burma-Krimis, von denen sich in Paris des Verbrechens immerhin zehn klassische "Arrondissement"-Fälle wiederfinden. Sollte man sich nicht entgehen lassen.

"Schmauchspuren"

... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Print_ George MacDonald Fraser - Flashman Hörbücher

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Held wider Willen

Sein Name ist Flashman, Harry Flashman. Und sollten Sie noch nie von ihm gehört haben, bietet der deutsche Kuebler-Verlag nun die Abenteuer von George MacDonald Frasers grandiosem Abenteurer sowohl in Buch- als auch Hörbuch-Form. Martin Compart hat gelauscht.

Seit einigen Jahren spezialisiert sich der Kübler-Verlag auf historische Abenteuerromane vom Besten. Die absolute Krönung des Programms ist die preislich unverschämt günstige und trotzdem wunderschöne Paperback-Ausgabe der Flashman-Serie. Diese Neuausgabe ist sogar attraktiver als die alte Ausgabe aus den 1980ern bei Ullstein, für die ich damals extra die "Ullstein Abenteuer"-Reihe kreierte. Flashman ist der nach wie vor unerreichte Höhepunkt des historischen Abenteuer-Thrillers. Im Grunde muß man die Alphabeten einteilen in Menschen, die Flashman gelesen haben und bedauerliche (oder beneidenswerte) Personen, die ihn (noch) nicht entdeckt haben. Aber zur politisch unkorrekten (und damit historisch umso wahreren) Flashman-Serie demnächst mehr an dieser Stelle.

 

 

 

Neben den bisher veröffentlichten sieben Romanen hat der Verlag auch die drei ersten, Flashman in Afghanistan, Royal Flash und Flashman - Held der Freiheit, als Hörbücher vorgelegt. Und um es gleich vorweg zu sagen: die setzen Maßstäbe bei Hörbuch-Adaptionen. Alle sind unwesentlich (und geschickt) gekürzt und jedes über zehn Stunden(!) lang! Und was Stefan Wilkening aus dem Vortrag macht, ist schlichtweg hohe Schauspielkunst. Selten haben mich Lesungen so hineingesogen und in ihren Bann gezogen! Wobei, zugegeben, das Ausgangsmaterial ja auch nicht gerade demotivierend ist. Wer das im Auto hört, hofft auf eine Strecke mit vielen Staus.

Wer "Flashman in Afghanistan" kennt, der weiß, warum dort seit Alexander keine Invasoren Erfolg haben konnten (überhaupt sollte Flashy Pflichtlektüre in Militärakademien sein). Wer "Royal Flash" gehört, gelesen oder gesehen (die einzige bisherige Verfilmung, mit Malcolm McDowell als Flashman) hat, weiß mehr über die Skrupellosigkeit des jungen Bismarcks. Und "Flashman - Held der Freiheit" räumt drastisch mit Klischees über Abraham Lincoln auf und zeigt die ganze Brutalität des Sklavenhandels, von Westafrika bis in "God´s Forgotten Country". Allein der Teil über Dahomey und das Amazonenheer des sklavenjagenden Herrschers ist schon unvergeßlich.

Flashman ist neben Sherlock Holmes und James Bond die größte literarische Serienfigur der britischen Popkultur. George MacDonald Fraser hat mit diesen Romanen Weltliteratur geschrieben. Seine Geschichten um den Frauenhelden Harry Flashman, der trotz seiner Feigheit aus jeder Situation als dekorierter Held hervorgeht, sind besser recherchiert als viele Sachbücher und liefern ein Sittenbild der Epoche ab, wie man es sonst nicht zu bestaunen bekommt. Flashy, der Anti-Held, läßt nichts aus, um fälschlich heroisierte historische Figuren zu demaskieren. Fraser ist ein brillanter Stilist, der gleichzeitig spannend, humorvoll, aufklärerisch und anspruchsvoll schreibt. Ob exotisches Land oder weltgeschichtlicher Vorgang - Leser oder Hörer stecken mitten im Geschehen und glauben manchmal, es mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Aber Vorsicht: Nach Flashman feuert man die meisten historischen Romane persönlich beleidigt in die Ecke.

 

George MacDonald Fraser - The Light´s on at Signpost

Wenn der "Flashman"-Erfinder seine Memoiren zu Papier bringt, geizt er weder mit wunderbaren Anekdoten noch mit spitzzüngigen Seitenhieben gegen die Weltpolitik.

Stories_ Cannes 2014: Rückblick I

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There and Back Again

Von 14. bis 25. Mai drehte sich in Cannes wieder einmal alles um Film, Künstler, Erzähler und Sternchen. Michael Kienzl war vor Ort und hat sich mittlerweile vom Austernkonsum erholt. Im EVOLVER präsentiert er seine persönlichen Festival-Favoriten.

Schon seit Jahren bekommt man immer wieder zu hören, daß Fernsehen das neue Kino sei. Gemeint ist damit vor allem, daß auf Privatsendern wie HBO und AMC erzählerisch innovative Formate zu sehen sind, oft auch mit bekannten Regisseuren hinter der Kamera. Wie verhält es sich nun aber umgekehrt - oder, genauer gefragt, wie kann das Fernsehen das Kino bereichern?

Auf dem Filmfestival in Cannes war vergangenes Jahr beispielsweise Steven Soderberghs "Liberace" im Wettbewerb zu sehen, eine HBO-Produktion, die in den USA gar nicht erst in die Kinos kam. Heuer bewies dagegen Bruno Dumont ("Twentynine Palms") in der Nebensektion "Quinzaine des Réalisateurs", daß selbst eine Fernsehserie ohne weiteres auf der großen Leinwand bestehen kann. Li’l Quinquin ist ein für Arte entstandener Vierteiler, der sich nicht viel um die Konventionen des Fernsehens oder das mittlerweile geläufige 16:9-Format schert. Die absurde Mischung aus makabrer Polizeiserie und anarchischer Lausbubengeschichte hat Dumont in Cinemascope gedreht, mit großzügig komponierten Bildern, deren Details auf dem kleinen Bildschirm etwas verloren wirken dürften.

Auch sonst funktioniert "Li’l Quinquin" eher wie ein längerer Dumont-Film als wie eine herkömmliche Serie. Die Faszination für Körper, die sich deutlich von traditionellen Schönheitsidealen abgrenzen, ist auch hier das auffälligste Merkmal, nicht zuletzt wegen des jungen Protagonisten, der mit Hasenscharte und plattgedrückter Nase so ganz anders aussieht als die adretten Burschen, die einem ansonsten im Kino begegnen. Statt zu romantisieren, erkennt Dumont die wahre, rohe Natur von Kindern. Die haben in der nordfranzösischen Provinz während der Sommerferien nämlich nur Blödsinn im Kopf, fluchen, was das Zeug hält, sprengen die Idylle der Erwachsenwelt mit Feuerwehrskörpern und können sogar rassistische Widerlinge sein. Am überraschendsten ist jedoch, wie souverän sich Dumont in diesem Mikrokosmos der Normabweichung als Meister des verschrobenen Slapsticks bewährt.

 

In den Wettbewerb hat es "Li’l Quinquin" aus unerfindlichen Gründen nicht geschafft. An der Länge wird es wohl kaum liegen, denn der türkische Beitrag Winter Sleep, der auch nicht kürzer ist, hat sogar die Goldene Palme gewonnen. Eine gute Entscheidung - immerhin hat Nuri Bilge Ceylan einen der stärksten Filme des Festivals gedreht. Die rudimentäre Handlung ist in einem zentralanatolischen Dorf angesiedelt, das mit seinen aus Felsen ragenden Häusern wie eine Science-Fiction-Kulisse wirkt. Der wohlhabende Hotelbesitzer Aydin lebt dort zurückgezogen mit seiner Schwester und seiner Frau. Überall inmitten dieser erhabenen Naturlandschaft lauern ungleiche Machtverhältnisse, ob zwischen Aydin und den ausgebeuteten Bauern oder innerhalb der Familie. Ceylan sucht dabei nicht penetrant den aktuellen Bezug zur türkischen Wirklichkeit, sondern widmet sich vor allem seinen komplexen, nie wirklich sympathisch werdenden Figuren, die in ungewöhnlich langen, aber perfekt orchestrierten Gesprächen ihre Abneigung füreinander ausdrücken. Ein starkes Stück Kino, dem man vielleicht nur vorwerfen kann, daß sich Ceylan hier, anders als in früheren Werken, weniger auf starke Bilder als auf die Kraft der Worte verläßt.

 

Auch über die restlichen Preisträger, die von der Jury unter dem Vorsitz von Jane Campion ausgezeichnet wurden, kann man nicht viel meckern. Andrei Swjaginzews "Leviathan", eine elegant in Szene gesetzte Geschichte von der Allmacht des russischen Staates, die das aufbegehrende Individuum zermalmt, wurde zu Recht prämiert - wenn auch der Drehbuchpreis vielleicht nicht die angemessene Auszeichnung war. Und auch Bennet Miller, der mit seinem düsteren Sportdrama "Foxcatcher" von gebrochenen Männern erzählt und Steve Carrell in einer großartigen, zumindest halbwegs ernsten Rolle auftreten läßt, möchte man den Regiepreis nicht streitig machen.

Xavier Dolan, dem seit Jahren gehypeten Wunderkind, dagegen schon. Seit seinem Erstling "I Killed My Mother" zeigt der 25jährige Kanadier, daß er ein Styler vor dem Herrn ist. Was er erzählerisch nicht heben kann, gleicht er mit ausgedehnten Zeitlupensequenzen, poppigem Soundtrack und einer detailverliebten Ausstattung aus. Mit dem sadomasochistischen Kammerspiel "Tom at the Farm" bewies er zuletzt, daß er sich auch weiterentwickeln kann. Sein diesjähriger Wettbewerbsbeitrag Mommy geht jedoch wieder zwei Schritte zurück. Zunächst muß man durchaus den Mut des Regisseurs anerkennen, im porträthaften Format 5:4 zu drehen und seine Schauspieler bis zur körperlichen Verausgabung anzustacheln. Doch hinter der Verpackung eines schicken Experiments verbirgt sich dann doch nur ein sentimentales und recht konventionelles Arthouse-Drama über eine leidenschaftlich fluchende Mutter und ihren an ADS leidenden Sohn. Proletarier-Romantik mit Feel-Good-Touch.

 

Zur Fortsetzung ...

Festival de Cannes 2014

14. bis 25. Mai 2014

Stories_ Cannes 2014: Rückblick II

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Slashing the Red Carpet

David Cronenberg takes on Hollywood. Südkorea liefert gewohnt routinierte Action-Kost. Und der belgische Regisseur Fabrice Du Welz erzählt die Geschichte von Raymond Fernandez und Martha Beck neu. Zweiter und letzter Teil unseres Cannes-Rückblicks.

Bedauerlichweise hat ein Beitrag wie "Mommy" (Lesen Sie dazu den ersten Teil unseres Cannes-Rückblicks) vielen anderen Filmen die Aufmerksamkeit genommen. Bertrand Bonellos Saint Laurent etwa, der mit ausgeprägtem Stilbewußtsein bewies, daß es aufregender sein kann, wenn sich ein Biopic mit Nebensächlichkeiten aufhält als mit den Schlüsselszenen eines prominenten Lebens.

Oder Clouds of Sils Maria, einem der tollsten Filme des Wettbewerbs, dessen Nachteil es vermutlich war, erst am letzten Tag gezeigt zu werden. Olivier Assayas denkt darin auf ebenso humorvolle wie vielschichtige Weise über seine Hauptdarstellerin und den schmerzhaften Prozeß des Alterns nach. Juliette Binoche spielt eine fiktive Version ihrer selbst, die wiederum eine fiktive Version ihrer selbst spielen soll. Die Chemie zwischen Binoche und Kristen Stewart, die ihr als persönliche Assistentin zur Seite steht, ist beeindruckend. Bei den Textproben der beiden in den Schweizer Bergen weiß man oft nicht, was Wirklichkeit und was Spiel ist. Dabei bezieht Assayas auf sehr kluge Weise die Biographien seiner Hauptdarstellerinnen mit ein. In einer der besten Szenen des Films streiten sich Binoche und Stewart darüber, was einen guten Film ausmacht. Auf der einen Seite argumentiert die Vertreterin eines bildungsbürgerlichen Arthouse-Kinos, auf der anderen eine Nachwuchsschauspielerin aus Hollywood, die auch in einem Blockbuster tiefere Wahrheiten erkennen kann.

 

Weitaus gnadenloser ging David Cronenberg mit der amerikanischen Traumfabrik ins Gericht. Maps to the Stars wirft einen mitleidlosen Blick in ein moralisch völlig verlottertes Filmbusineß, in dem Schauspieler nur noch unsichere Huren sind. Nachdem Cronenberg seit seiner endgültigen Abkehr vom Horrorkino nur noch mäßig interessante Filme dreht, ist er mit seiner zynischen Inzestgeschichte diesmal zumindest teilweise wieder in alter Form. So gibt es zwar keinen Body-Horror, dafür aber reichlich Family-Horror. Ein wenig fühlt man sich bei "Maps to the Stars" an Paul Schraders "The Canyons" erinnert, wobei letzterer schon allein deshalb der bessere Film ist, weil er nicht versucht, sich mit einer hochkarätigen Besetzung aufzuwerten, sondern seine Sleaziness mit Lindsay Lohan in der Hauptrolle ganz offen ausstellt. Daß Schraders Film damals keines der großen Festivals haben wollte, ist leider exemplarisch für die geheuchelte Geschmackssicherheit, die hier teilweise herrscht. Camp oder Genrekino sieht man in Cannes leider nur selten, und wenn, dann werden die Filme schön in die Nebensektionen abgeschoben.

 

Anhand der beiden Actionstreifen A Hard Day und The Target konnte man sich ein weiteres Mal davon überzeugen, daß Südkorea momentan eines der verläßlichsten Länder für solides Genrekino ist. Abgesehen davon, daß die Filme mit ihren Materialschlachten und ihrem makabren Humor eine Menge Spaß bereiten, demonstrieren sie auch, daß Action durchaus subversives Potential besitzen kann. Die Grenzen zwischen gut und böse, kriminell und anständig haben sich hier völlig aufgelöst. Nicht einmal mehr der Polizei kann man hier trauen, weil sie in beiden Filmen von Korruption und Intrigen zerfressen ist.

In den Nebensektionen standen auch zwei Horrorfilme auf dem Programm, die einerseits als traditionelles Genrekino funktionieren, andererseits aber auch nach eigenen Wegen suchen:

 

Die neue Regiearbeit des Belgiers Fabrice Du Welz ("Calvaire") ist beispielsweise eine ziemlich durchgeknallte Wiederbelebung eines historischen Kriminalfalls. Das Serienmörderpärchen Raymond Fernandez und Martha Beck hat es schon ein paarmal auf die Leinwand geschafft, in Leonard Kastles "The Honeymoon Killers" etwa oder in Arturo Ripsteins "Deep Crimson". Was Du Welz hier jedoch auf grobkörniges 16mm-Material gebannt hat, wirkt wie ein düsterer Fiebertraum, der im Laufe des Film total in den Wahnsinn abdriftet. Alleluia macht es sich zur Aufgabe, Grenzen zu überschreiten. Nicht unbedingt mit seinen teils sehr expliziten Gewaltszenen, sondern weil er die Erwartungen unterläuft, die man als Zuschauer an einen Horrorfilm hat. Während sich Du Welz immer weiter von seiner wahren Begebenheit entfernt, verliert er sich in abwegigen Sexakten, heidnischen Ritualen oder einer sehr seltsamen Szene, in der seine Protagonistin eine traurige Musical-Nummer darbietet, bevor sie eine Leiche zersägt. Das alles ist jedoch mehr als reine Provokation, da der Film konsequent seiner Handlung verpflichtet bleibt: der Geschichte einer zutiefst verletzten Frau, die von ihrer krankhaften Eifersucht überwältigt wird.

 

Cannes ist traditionell eher ein Festival für etablierte Namen als ein Ort, an dem der Nachwuchs entdeckt wird. Da vermißt man schon ein wenig die Bereitschaft zu scheitern. Zumindest hat es sich das parallel stattfindende Festival "Semaine de la Critique" zur Aufgabe gemacht, nur Erstlings- und Zweitlingsfilme zu zeigen. Vor einigen Jahren präsentierte hier David Robert Mitchell sein Debüt "The Myth of the American Sleepover". Das Setting eines tristen Suburbia, in dem Teenager auf der Suche nach ersten sexuellen Erfahrugen sind, überträgt Mitchell in seinem neuen, ebenfalls in der "Semaine de la Critique" präsentierten Film nun in einen ganz anderen Kosmos.

It Follows ist über weite Strecken ein klassischer Horrorfilm, der ästhetisch an in die amerikanischen Slasher-Streifen der 1970er Jahre angelehnt ist. Die Prüderie, die in diesem Subgenre häufig zum Ausdruck kommt, stellt er jedoch auf den Kopf. Sex ist hier nicht mehr ein Grund zu sterben, sondern die letzte Möglichkeit, um zu überleben. Ein junges Mädchen bekommt bei ihrem ersten Mal einen tödlichen Fluch aufgehalst, nach dem sie von Menschen verfolgt wird, die ihr wie die reitenden Leichen von Amando de Ossorio im Schneckentempo ans Leder wollen. Weitergeben kann sie den Fluch nur, indem sie Sex mit jemand anderen hat. "It Follows" ist ein klug konstruierter und auch überraschend gruseliger Film, der es mit seinem polternden Soundtrack zwar ein wenig übertreibt, letztlich aber als schaurig-schöne Metapher für die Ängste und Unsicherheiten Jugendlicher im Gedächtnis bleibt.

Es ist schon bedauerlich, daß es solche Filme nicht im Hauptprogramm zu sehen gibt, während es die Regieversuche von Schauspielern wie Ryan Gosling, Asia Argento und Matthieu Amalric schon wegen der bekannten Namen mindestens in die zweitwichtigste Sektion "Un Certain Regard" schaffen. Sicher - über die Qualität des diesjährigen Wettbewerbs konnte man sich nicht groß beschweren. Gerade was das jüngere Kino angeht, kann man Festivalleiter Thierry Frémaux für die nächsten Jahre aber nur mehr Mut bei der Programmauswahl wünschen.

Festival de Cannes 2014

14. bis 25. Mai 2014


Kolumnen_ Miststück der Woche III/79

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Damon Albarn: "Everyday Robots"


Er ist wieder da! Keine Angst, es geht hier nicht um den Bestseller von Timur Vermes - sondern um unseren Kolumnisten. Der ist nämlich von den sanften Hügeln des Allgäus in sein Büro zurückgekehrt. Manfred Prescher zeigt sich erholt, mußte aber erst einmal die Stapel mit den Neuerscheinungen vom Schreibtisch wischen. Sonst wäre er gar nicht an seine Tastatur gekommen ...

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Wie lange war ich eigentlich weg? Es kommt mir so kurz und doch irgendwie auch ziemlich ewig vor. Eine echte Vorstellung von der Ewigkeit habe ich natürlich nicht, genausowenig wie von der Zahl, die sich hinter "unendlich" verbirgt - oder davon, was sich nächtens hinter den weißen Mauern Oberstaufener Häuser tut. Mysterien über Mysterien, wo immer man hinschaut und nachbohrt: Warum wählt zum Beispiel jemand die AfD? Gute Frage, aber mit der bin ich ein bisserl zu früh im Hier und Jetzt zurück.

Wie lange war ich nun eigentlich wirklich weg? Es ist auf jeden Fall nicht so viel passiert, daß man sagen könnte, ich hätte ein Erdzeitalter übersprungen. Für die Menschheit ist mein Klinikaufenthalt nur ein kleiner Schritt gewesen, für mich indes ein großer: Als ich heimkam, wurde das Oasis-Album "Definitely Maybe" gefeiert - es ist halt auch schon 20 Jahre alt. Ehrlich! Aber so lange war ich nun doch nicht weg. In den paar Wochen meiner freiwilligen Abstinenz von Außenwelt und ihrer Nachrichtenflut stiegen Fußballmannschaften auf und ab, gewannen oder verloren die Champigons League, trennten sich - vor meinen müden Augen - Paare nach Beziehungen, die mit "Definitely Maybe" begannen und letztlich auch so umschrieben werden könnten. Und es wurden immer neue Platten herausgebracht: Wie von mir im Vorfeld angedroht, ist Michael Jackson noch einmal aus der Kapuzineräffchengruft gestiegen, aber Lichtblicke gibt es en masse. Kaum ist man mal weg, bringt Mark Oliver alias The Eels eine verdammt gute "Bladde" raus, genauso Soulmann Lee Fields, Irlands Neo-Rockabilly-Queen Imelda May, ebenso wie DjangoDjango, die hochbegabten Bastler von elektronischen Wundertüten, und Damon Albarn.

 

Bevor ich mich auf den Kopf von Blur/Gorillaz/The Good, The Bad & The Queen, auf den Produzenten des famosen letzten Werks von Bobby Womack und Opernkomponisten ("Monkey: Journey To The West") konzentriere, möchte ich auch noch erwähnen, daß mich Morrissey in meiner wohl tatsächlich ewiglichen Abwesenheit erhört hat: Er kommt am 11. Juli mit einem neuen Album. Das Titelstück gibt es - passend zu den Europawahlen - schon jetzt: "World Peace Is None Of Your Business". Es ist ebenso typisch Morrissey wie Morrissey-typischerweise diskutierenswert. Sollte man nicht doch um den Weltfrieden kämpfen oder an irgendeinem friedlichen Ort den privaten Frieden suchen? In Einklang mit der Natur, aber auch mit Buddha, naturbelassener Butter, der Frau/dem Mann fürs Leben, den wesentlichen "Inselsongs" und ein paar Schreibutensilien? Oder doch darum kämpfen, daß sich die Idiotie und mit ihr die individuelle wie die weltgesellschaftliche Rüstungsspirale in Richtung "Love, Peace And Happiness" (frei nach dem großen Fernost-Philosophen Carl "Kung Fu Fighting" Douglas) zurückdrehen läßt? Ich weiß es ehrlich nicht. Aber ich ahne, daß es ein privates Friedensidyll auch nicht gibt. Schließlich war ich ewig auf einer beschaulichen Ackerscholle am unteren Rand des Allgäus - nette Gegend, "Landschaft ist auch da" (Nina Hagen) und viel Ruhe. Da ignoriert man glatt, daß dort im Landkreis Lindau und der näheren Umgebung die Betonkopfdichte doch - gemessen an der geringen Einwohnerzahl - recht hoch ist. Und sich auf Deutsche, Österreicher und Schweizer Fetzenschädel gleichmäßig verteilt. Während ich mein inneres Kind pflegte, haben andere drum herum wahrscheinlich ihr inneres Rindviech herausgelassen. Tut mir leid, liebe vom Auerochsen abstammenden Paarhufer. Ich wollte euch nicht zu nahetreten.

Und nun bin ich wieder in der Tretmühle angekommen. Die Frage nach dem Weltfrieden steht erst mal hinten an - er kommt "Definitely Maybe". Und über den Umweg zu Oasis wäre ich bei Damon Albarn. Denn Liam Gallagher sagte über Albarns Konkurrenzmutterschiff Blur, daß die einen guten Schlagzeuger hätten. Was stimmt, Dave Rowntree ist famos. Aber Gallagher vermerkte auch, daß er den Gitarristen (Graham Coxon) und den Sänger (Damon Albarn) "sch..." findet. Albarn ist meiner maßgeblichen Meinung nach aber doch ziemlich groß, er ist vielleicht "The Bravest Man Of The Universe", und "Everyday Robots" ist als Album ein echtes Meisterwerk. Der Titelsong verweist natürlich auf die Pop gewordenen Sehnsüchte nach dem gefühlskalten Dasein als Maschinenwesen - wie sie zur New-Wave-Zeit unter anderem von Kraftwerk mit "The Robots" oder Ultravox! mit "I Want To Be A Machine" postuliert wurde. Gleichzeitig ist Albarns Lied aber auch Ausdruck des ewigen Kampfs ums Dasein, der meistens nur dann gerade noch so geführt werden kann, wenn man die Sehnsucht nach dem Weltfrieden, einer Liebesnacht unter südlichem Sternenhimmel oder die eigenen Schmerzen im Gebälk ignoriert. Damon Albarn startet die CD jedenfalls mit dieser intellektuell verschleppten Arbeiterhymne für den modernen Menschen. Der werkelt schließlich nicht mehr wie seinerzeit Chaplin in "Modern Times" im Rhythmus von Riesenmaschinen, sondern streßt, von tausend Dingen gleichzeitig angetrieben. While my Bürostuhl gently quietscht, prasseln ununterbrochen Aufträge auf einen nieder, die sofort (ASAP, wie das neudeutsch heißt) erledigt werden müssen. Ich habe aber in meiner beinahe ewigen Abwesenheit gelernt, daß die Welt nicht untergeht, wenn manche Räder einfach mal stillstehen. Das ist gut für den privaten und vielleicht sogar den Weltfrieden.

 

Albarn weiß das auch und hat uns 15 sehr persönliche Betrachtungsweisen zum Menschsein im allgemeinen und zu seinem eigenen Werdegang im besonderen geschenkt. Er beleuchtet ein Album lang das Aufwachsen, Verwachsen und Geradebiegen der Kreatur und transferiert die intelligenten Texte in sehr zurückhaltende Grooves und feine Melodien, die er immer wieder bricht. Wer will, kann darin die Gorillaz erkennen, genauso auch Blur. Aber eigentlich ist es das weise Werk eines klugen 46jährigen Künstlers, der nicht mehr herumroboten will. Und es sicher auch nicht mehr muß. Der kann - und wird - uns daher auch bald noch ein neues Blur-Album kredenzen. Wort des lebendigen Manfreds!

Nächste Woche erzähle ich hier an dieser Stelle von Imelda May und ihrer Variante des Rock´n´Roll. Der bringt charmanten Schwung in euer Leben, euren iPod, euer Autoradio und vielleicht sogar die vom Herumroboten müden Glieder zum Tanzen. Bis dahin macht´s gut, seid lieb zueinander und zu euch selbst. Dann klappt es vielleicht auch mit dem privaten Frieden.

 


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Damon Albarn: "Everyday Robots"

Enthalten auf der gleichnamigen CD (Parlophone Label Group/Warner)

 

(Photo © Linda Brown Lee)

Kino_ Film-Tips Juni 2014

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Lost Highway

Der "beste Spielfilm der Diagonale 2014" und halbgares Queer-Cinema sorgen diesen Monat ganz bestimmt nicht für Herzrasen. Und auch Tom Hardy als "Locke" kämpft - allein am Steuer - vergebens gegen die Müdigkeit an.

Maman und ich


(Les garçons et Guillaume, à table!)

Filmstart: 6. Juni

 

Der Film zum Conchita-Hype: Es geht um einen effeminierten jungen Mann aus begüterter französischer Familie, der sich definitiv nicht für Sport, dafür umso mehr für Frauenkleider interessiert und deshalb von allen mit hübscher Selbstverständlichkeit für schwul gehalten wird. Wenn die Mutter die kinderreiche Familie zum Essen ruft, heißt es denn auch: "Die Buben und Guillaume zu Tisch!" (so übrigens der übersetzte Originaltitel des fünffach César-prämierten Films). Daß sich der Held zuletzt (Spoiler-Warnung!) als wackerer Hetero erweist, würde man für eine arg konstruierte Pointe halten, basierte der Film nicht auf selbst Erlebtem. Besagter Guillaume heißt nämlich mit Nachnamen Gallienne, und er hat nicht nur das Bühnenstück, das dem Film zugrunde liegt, sondern auch dessen Verfilmung geschrieben und inszeniert – mit sich selbst in beiden Hauptrollen. Richtig gelesen, denn Gallienne spielt hier nicht nur sich selbst, sondern auch, in wallender Blondperücke, seine eigene Mutter, die sich immer wieder mit teils ungebetenen Ratschlägen ins Bild drängt. Das Ganze ist hübsch anzusehen, hat Momente bizarrer Komik (Guillaume in Sisi-Verkleidung, Guillaume im Gespräch mit einer skurril maskulinen Psychiaterin), ermüdet letztendlich aber doch wie jeder zu ausführlich erzählte Witz, der auf einer einzigen Pointe beruht. Für Komplettisten des Queer-Cinema immerhin unverzichtbar. (HL)     

Der letzte Tanz

Filmstart: 13. Juni

 

Ist Houchang AllahyariÖsterreichs Fassbinder? Nicht nur, daß der aus dem Iran stammende Wiener Regisseur und Psychiater mit unbeirrbarer Regelmäßigkeit neue Arbeiten ins Kino bringt, erinnern auch Stil und Thematik von ferne an den deutschen Regie-Berserker. Immer geht es um sogenannte gesellschaftliche Außenseiter, immer wieder verdichtet Allahyari seine progressive Botschaft in Fabeln von gleichnishafter Schlichtheit, und noch dazu dreht er seit Jahren mit dem gleichen Team (dem inzwischen auch Teile seiner leiblichen Familie angehören). Im "Letzten Tanz", der bei der heurigen "Diagonale" als bester Spielfilm prämiert wurde, geht es um einen Zivildiener, der sich im Pflegeheim einer scheinbar dementen Patientin mehr annimmt, als dies die Gesellschaft akzeptieren würde. Der Film ist durch und durch sympathisch, profitiert von einer radikal kompromißlosen Erni Mangold in der weiblichen Hauptrolle - und hat dennoch zwei Schwächen, eine formale und eine inhaltliche. Allahyari teilt die einfache Geschichte in zwei Teile und erzählt den ersten in düsterem Schwarzweiß. Okay, das scheint zwar leicht manieriert, läßt sich aber hinnehmen. Schwerer wiegt der zweite Einwand. Der junge Zivildiener landet nämlich vor Gericht, und der Film macht ein großes Geheimnis um den eigentlichen Tatbestand, der ihm vorgeworfen wird. Was Ausdruck gelebter Empathie war, gilt der Justiz als Sex mit einer Abhängigen, doch diese Diskrepanz wird im Dialog nie auf den Punkt gebracht. Ein juristisch nicht vorgebildetes Publikum bleibt mit der Frage, was der junge Mann denn letztlich angestellt haben soll, allein. Immerhin sorgt "Der letzte Tanz" auf diese Art verläßlich für Diskussionsstoff. (HL)

No Turning Back


(Locke)

Filmstart: 19. Juni

 

Wie zum Beweis dafür, daß das digitale Zeitalter langweiliger ist als alles je zuvor, liefert der britische Regisseur Steven Knight (der zuvor schon mit dem Jason-Statham-Streifen "Redemption - Stunde der Vergeltung" nicht extra auffiel) mit seinem neuen Film eine fast eineinhalbstündige Übung in Langeweile. Er hält seine Digitalkamera nämlich die ganze Zeit auf Tom "Bane" Hardy, der im Auto von Birmingham fährt und dabei sein digitales Handy zum Telefonieren benützt. Öd? Darauf können Sie wetten. Noch schlimmer wird´s, wenn man als Zuseher (oder eigentlich Zuhörer) registriert hat, worum es bei dem Gefasel geht: Der Protganist hat bei einem One-Night-Stand irgendeine Frau geschwängert, die nicht die seine ist, und jetzt leitet er A. die Dame bei der Geburt an (als ob Frauen das nicht seit Jahrzehntausenden alleine könnten), läßt B. seine Familie im Stich (aber nicht ohne ermüdende Diskussionen) und macht sich C. noch in seinem Job als Bauingenieur wichtig, weil es ein entscheidendes Fundament zu gießen gibt. Da ist es D. kein Wunder, daß der Mensch nicht nur Familie und Arbeitsplatz verliert, sondern auch schon lange vorher das Interesse des Publikums. Aber Hauptsache, das Putzerl ist gesund ...

Obergscheite Kritiker bezeichnen solche Machwerke gern als "filmisches Experiment" oder "Kammerspiel". Aber leider - wenn bei so einem Einmannfilm der eine Mann nicht im Sarg liegt und um seine Atemluft kämpft, dann geht dem Experiment sehr schnell die Luft aus. (PH)

Außerdem im Lichtspieltheater

Falls Sie die Juni-Filmstarts nicht wirklich zu einem Kinobesuch motivieren können: Godzilla und die X-Men warten seit Ende Mai darauf, die Welt auf höchst unterhaltsame Weise vor Ihren Augen in Schutt und Asche zu legen. Lesen Sie mehr dazu in unseren Film-Tips vom vergangenen Monat.

Video_ The Last Days

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Die letzten Tage der Menschheit

Eine rätselhafte Epidemie zwingt die Menschheit zum Rückzug in die Isolation. Doch der Protagonist von "The Last Days" macht sich in einem Anfall von Lebensmut auf die Suche nach seiner schwangeren Geliebten. Nach "Carriers" versucht sich das Brüderpaar Pastor erneut am Endzeitthema.

In Barcelona häufen sich Meldungen von mysteriösen Todesfällen nach nicht näher erklärten Panikattacken. Menschen verweigern den Gang zur Arbeit, verbarrikadieren sich scheinbar grundlos in den eigenen vier Wänden. Auch der Programmierer Marc (Quim Gutiérrez) beobachtet Veränderungen in seiner Umgebung: Haben die Verhaltensweisen seiner Mitmenschen in letzter Zeit nicht tatsächlich merkwürdige Züge angenommen? Zumindest mit dem Mieter von Gegenüber scheint etwas nicht zu stimmen ...

Doch die drängendsten Probleme in Marcs Leben sind zunächst noch privater Natur: Die Beziehung mit seiner Freundin Julia (Marta Etura) steht nach der Verkündung ihrer Schwangerschaft vor dem Aus. Zudem setzt Marcs despotischer Vorgesetzter die Abteilung unter Druck, vergiftet das Betriebsklima und schürt Ängste. Als ein Arbeitskollege, kurz nachdem er gegen seinen Willen aus den Büroräumen ins gleißende Tageslicht gezerrt wurde, vor Marcs Augen einen bizarren Tod stirbt, nimmt die bislang eher auf medialer Ebene wahrgenommene Bedrohung auch für ihn greifbare Formen an. Zeit zum Reagieren bleibt nicht - im Freien sterben die Menschen unerklärliche Paniktode. Als das Chaos hereinbricht, flüchten sich die Überlebenden in den Untergrund.

 

Den - nicht nur eigenen - Untergang vor Augen, fokussiert sich die zuvor eher zerknirscht in den Tag hineinlebende Hauptfigur in der Krise auf fundamentale emotionale Bezugspunkte. Aus Freundin Julia und dem gemeinsamen ungeborenen Kind wird so ein strahlender Rettungsanker der Hoffnung; ein letztes Ziel, das Marcs Überlebensinstinkte schärft. Auf seinem beschwerlichen Weg durch die unterirdischen Schächte und Kanäle einer implodierten Metropole schließt er einen Vernunftpakt mit seinem ehemaligen Vorgesetzten Enrique (José Coronado), der sich seinerseits auf der Suche nach einem Angehörigen befindet.

Gediegene spanische Vertreter aus der Thriller-, Horror- und Mystery-Ecke sind dieser Tage keine Seltenheit mehr. Alex und David Pastor, die bereits mit ihrer tauglichen Zombie-Variante "Carriers" positiv aufgefallen sind, liefern mit "The Last Days" einen Endzeitfilm mit frischem narrativen Anstrich ab. Dabei schnüren sie ein insgesamt recht stimmiges Paket, das reichlich Interpretationsspielraum für gesellschaftspolitische Reflexionen schafft: So bietet sich die allergische Überreaktion auf die Außenwelt als Allegorie auf die aktuell sozial und wirtschaftlich prekären Lebensverhältnisse Spaniens an. Die in höchster Not erzwungene Zusammenarbeit zwischen dem einfachen Angestellten und seinem ungeliebten Vorgesetzten wird demnach zur exemplarischen Aufhebung des Klassensystems. Und gewiß darf die todbringende Flora als ultimativer Racheakt der von Umweltsünden geknüppelten Natur verstanden werden.

 

Andernorts sind unter der schick inszenierten apokalyptischen Oberfläche einige Schwachpunkte auszumachen: Insbesondere das reichlich Potential bergende Spannungsfeld zwischen Marc und Enrique wird kaum abgeerntet; die widerwillig eingegangene Koalition durchläuft lediglich vorhersehbare Stadien. In den entscheidenden Passagen krankt "The Last Days" an fehlender Substanz in Inhalt und Dialog. Und am Schluß stellt das verkürzte Finish im Weichzeichnerstil - ein Zeitrafferepilog für unverbesserliche Optimisten - die endzeitliche Konzeption als Ganzes in Frage. Schade drum.

 

The Last Days - Tage der Panik

ØØØ
(Los últimos dias)

Alive AG (ESP 2013)

DVD Region 2
103 Min. + Zusatzmaterial dt. Fassung oder span. OF

Features: Making of, Entfallene Szenen, Teaser, Kinotrailer

Regie: Alex Pastor, David Pastor

Darsteller: Quim Gutiérrez, José Coronado, Marta Etura u. a.

Print_ Print-Tips Spezial

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Schmauchspuren #23

Decken Sie sich mit Kriminalromanen ein, am besten in Taschenbuchform. Kostengünstiger, intelligenter und zudem informativer können Sie Ihren Urlaub in Zeiten der Finanz-Supergangster gar nicht zubringen.

Alle reden von der Krise, sparen und werden eingespart, verstecken sich mit Atemschutzmaske zu Hause vor der Schweinegrippe. Nur die Verlagsbranche blüht und gedeiht, weil viele sich lieber ein Buch kaufen, statt teuer speisen oder ins Kino zu gehen. Und Krimis verkaufen sich am besten, weil wir in kriminellen Zeiten leben, wie die Wirtschaftskrise zeigt. Wegen der Flut an Neuerscheinungen, die das Volk mit spannender Unterhaltung durch den bevorstehenden Urlaub am Balkon bringen sollen, handeln wir unsere Empfehlungen und Warnungen diesmal blockweise ab.

Brennpunkt Österreich

Helmut Zenker - Kottan ermittelt: Das wahre Ende von Kottan

EuroVideo 2009, 6 CDs

 

Nora Miedler - Warten auf Poirot

Ariadne/Argument 2009

 

Hermann Bauer - Karambolage

Gmeiner 2009

 

Pierre Emme - Schneenockerleklat

Gmeiner 2009

 

Zuerst die beste Nachricht von allen: Kottan lebt! Der Major ("Inspektor gibt´s kan!") wurde zwar fernsehmäßig vom ORF abgeschossen, doch es gab noch einige Zenker-Drehbücher, die nun als Hörspiele aufgenommen und vom DVD-Hersteller der TV-Folgen in einer netten, wenn auch schwer zu öffnenden Sammelbox veröffentlicht wurden. Sechs Episoden lang unterhalten in Das wahre Ende von Kottan Lukas Resetarits, Adolf Buchrieser (als Kottans bisher unbekannter Bruder!), Bibiana Zeller sowie Mat Schuh als Pilch und Franz Suhrada als Schrammel (beide: kein Vergleich ...) in chaotischen, an die Schlußphase der Serie erinnernden Fällen. Achtung: zu lustig für den Auto-CD-Player!

Die zweite Entdeckung heißt diesmal Nora Miedler, ist Schauspielerin und wird zumindest von ihrem Verlag als neue österreichische Krimisensation gefeiert. Ganz so aufregend ist ihr Romandebüt Warten auf Poirot zwar nicht, aber die Psychogeschichte um fünf Freundinnen, die in einer einsamen Berghütte eingeschlossen sind, verrät Talent - auch wenn der Trick mit der unzuverlässigen Erzählerin nun wirklich nicht mehr neu ist.

Miedler versucht´s wenigstens, die beiden folgenden Herren hingegen setzen auf die etablierten Muster des Lokalkrimis und damit auf Gemütlichkeit: Der mittlerweile verstorbene Pierre Emme schickt seinen Wiener Ermittler und Feinschmecker Mario Palinski in Schneenockerleklat zu einem Kriminalistenkongreß auf den Semmering. Doch schon im Zug passiert ein Mord - und zu Hause wird noch dazu ein junger Verwandter seiner Liebsten gekidnappt. Bedächtig und berechenbar, das Ganze, aber für Freunde des Autors eine nette literarische Hinterlassenschaft. Im selben Verlag erschien Hermann Bauers "Kaffeehauskrimi" Karambolage, der schon eher ein Ärgernis ist. Der überfreundlich-aufdringliche Chefober Leopold, die Billardrunde und der klischeebeladene Kieberer nerven ein wenig; richtig störend ist aber die Tatsache, daß der Täter noch vor dem ersten Mord erkennbar ist. Muß nicht sein.

Tatort L. A.

Raymond Chandler - Die Philip-Marlowe-Romane

Diogenes 2009, sieben Bände in Kassette

 

Frank MacShane - Raymond Chandler: Eine Biographie

Diogenes 2009

 

Wer Raymond Chandler nicht kennt, hat auf dieser Seite sowieso nichts verloren. Der Todestag des Hardboiled-Klassikers jährt sich heuer zum 50. Mal, was der Diogenes-Verlag zum Anlaß nimmt, Chandlers Werke in den bewährten, schön schlichten Krimiausgaben neu zu veröffentlichen: die Romane um den tausendfach imitierten/parodierten und nie erreichten Privatdetektiv Philip Marlowe in einer Box; die Kurzgeschichten, Essays, Briefe und Notizbücher in Einzelbänden; Frank MacShanes vortreffliche Biographie des Autors sogar als Hardcover. Profis besitzen das alles, Anfänger brauchen es, Freunde und Verwandte freuen sich über das Gesamtwerk als Geschenk.

Härte aus Hollywood

Robert Bloch - Shooting Star/Spiderweb

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2008

 

Ed McBain - Die Gosse und das Grab/Ken Bruen & Jason Starr - Crack/Lawrence Block - Falsches Herz/Max Phillips – Tödlich Blond

Hard Case Crime/Rotbuch 2009

 

Kommen wir wieder zum inhaltlichen Rückgrat dieser Kolumne, der Vintage- und Neo-Pulp-Serie Hard Case Crime, die als Band 42 gleich zwei Krimis von Robert "Psycho" Bloch präsentiert, im Stil der alten Ace Double Novels, also als "Wendebuch", das von beiden Seiten ins Sündenbabel Hollywood entführt.

Shooting Star (1958) setzt einen "Private Eye" mit Augenklappe auf eine Mordserie an B-Western-Stars an, hinter der in Wahrheit ein Drogendrama steckt - ausgerechnet um Marihuana, das Menschen in haltlose Killer verwandelt, wie wir alle wissen. Besser ist Spiderweb (1954), in dem ein hoffnungsvoller junger Mann statt einer Radiokarriere eine Ausbildung zum Psycho-Guru macht - ausgerechnet bei einem sinistren Professor, der ihn mit einer Mordsache erpreßt und immer tiefer in sein Spinnennetz zieht. Brillant. Man fragt sich nur, ob in weiteren 50 Jahren noch jemand die Verweise auf Kinogeschichte und alte Hollywood-Skandale verstehen wird ...

Noch einmal sei an dieser Stelle auf die deutschen Hard-Case-Ausgaben bei Rotbuch verwiesen, deren aktuelle Bände weiter oben aufgelistet sind.

Die Balkon-Hängematte wartet.

"Schmauchspuren"

... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Stories_ Reisebericht Zypern, Teil I

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Urlaub auf der Geisterinsel

Zypern konfrontiert den Urlauber in der Nebensaison mit allerlei Ungemach: leere Tavernen, kaum frisches Essen, Hotelruinen und Geisterstädte, durch die der Wind pfeift, vor sich hinschimmelnde, unverkaufte Reihenhäuser. Noch dazu werden Sparguthaben enteignet, und die Jugend trauert dem verlorenen Wohlstand nach. Ein Stück Beinahe-Paradies findet sich dennoch - jenseits der EU-Außengrenze. Ein Lokalaugenschein von Klaus Hübner.

Büyük Han, eine restaurierte ehemalige Karawanenstation im türkischen Teil von Nicosia

 

Der Flughafen von Larnaca auf Zypern liegt mitten in einem Touristenstreifen, der sich fast lückenlos entlang der gesamten Südküste der krisengebeutelten EU-Republik dahinzieht. Die Strände hier, auf Bildern in Reisebürokatalogen meist viel größer und menschenleerer als in Wirklichkeit, verstecken sich bevorzugt unter einem Meer aus Liegen und Sonnenschirmen. Nur im Westen oberhalb von Paphos gibt es noch ein naturbelassenes Stück EU-Zypern. Und im Troodos-Gebirge, dem Inselzentrum, abseits der ausgetretenen Touristenpfade. Ansonsten regieren Strand-Disco, Schaumparty und Lidl. Oder Sex, Alkohol und Drogen, wie uns ein zyprischer Türke namens Burhan viel später erklären wird.

Ein Aufenthalt auf Zypern läßt sich reibungslos im Internet planen; privates Vermieten ist einer der wenigen boomenden Märkte der Insel. Wer über AirBnB nördlich von Ajia Napa im angeblich ruhigeren Protaras ein Quartier bucht, wohnt günstig unweit der beliebtesten Touristenzentren und Strände; die Hauptstadt und der ferne Süden liegen in Autonähe, so wie das Troodos-Gebirge. Außerdem residiert man in unmittelbarer Nachbarschaft zu jener Grenze, die seit den 70er Jahren von UNO-Soldaten bewacht wird, damit die südzyprischen Griechen und die nordzyprischen Türken einander nicht die Schädel einschlagen. Allerdings sind die Grenzübergänge rar und gut versteckt. Keine Seite will der anderen zu kollateralem Grenzverkehr verhelfen.

 

Allgegenwärtig: die Flagge der Türkischen Republik Nordzypern Seite an Seite mit der türkischen. Auch der zur Moschee umgebaute gotische Dom in Nicosia trägt sie.

 

Die Teilung des Eilands ist natürlich ein einziger Jammer. Seit 1976 die Unruhen zwischen den Volksgruppen eskalierten, wissen die Zyprer nicht mehr, wie ihre Hauptstadt heißt - Lefkosia, Nikosia oder Lefkosa. Einheitlicher wird´s nicht, auch nicht auf Straßenschildern. Die türkische Armee landete damals am Nordzipfel der Halbinsel Karpaz und marschierte bis in die Hauptstadt. Dann kamen die UNO-Soldaten und drängten sich dazwischen. Seither ist Nikosia geteilt wie einst Berlin, durch eine Mauer mit Visumpflicht. Drüben leben die Moslems, hüben die Orthodoxen. Eine Änderung an diesem Zustand ist nicht in Sicht.

Den westlichen Besucher treibt die Stadt fast unweigerlich in ihre schmale Fußgängerzone. Hier schlendert man heruntergekommene Auslagen mit verblichenen Chanel- und Louis-Vuitton-Logos entlang und kriegt keinen Moment das Gefühl, daß hier der Rubel rollt, obwohl überall Russisch zu hören ist. Mancherorts hat einer "Fuck Merkel" hingesprüht; nur die touristischen Ramschläden blühen. Dann stehst du plötzlich an der EU-Außengrenze. Mitten durch die Stadt geht die UNO-Sperrzone mit Stacheldraht, Stahlwänden, riesigen Radarantennen und Parabolspiegeln, Photographierverbot und Schildern mit bewaffneten Soldaten, die mit vorgestreckter Hand die Buchstaben HALT! zu rufen scheinen. Was die UNO hier wohl treibt? Ein Visum ist in wenigen Minuten gelöst, und schon geht es weiter in den türkischen Teil der Stadt, hinein in eine Parallelwelt aus gefälschten Carrera-Brillen, T-Shirts mit "I am the BOSS"-Aufdruck und Efes-Bier. Ohne großen Aufwand verirrt man sich in die prächtig renovierte ehemalige Karawanenstation Büyük Han, wo die Kühle der alten, wuchtigen Steinmauern zum Verweilen einlädt. Ein paar schöne, skurrile Bauwerke machen einen Abstecher durchaus lohnenswert - etwa die zwei berüchtigten christlich-gotischen Kathedralen, denen schon vor Jahrhunderten Minarette angepappt wurden, womit die Moschee auch schon fertig war.

Bald aber kehrt man der Angelegenheit instinktiv den Rücken. Nikosia ist eine lärmende Stadt mit vielen leerstehenden Geschäften und verhalten köchelnder Armut. Mehr als einmal wird man sie wohl kaum besuchen - die Stadt ist einfach zu hart und schmutzig. Wer von der Autobahn aus einen letzten Blick zurückwirft, wird der gigantischen Flagge der Türkischen Republik Nordzypern gewahr, die augenscheinliche Fans des haßerfüllten Militärkonflikts auf einem Berghang im Norden hinter der Stadt angelegt haben. Die unfaßbar große Fahne ist pure Provokation. Sie hält Nikosia im Würgegriff.

 

Militärische Grenzabschottung: Beide Seiten lassen keinen unkontrolliert rüber, die UNO steht dazwischen.

 

Nach einer Fahrt durch eine unscheinbare und leidlich reizlose mediterrane Hügelandschaft erreichen wir von Nikosia aus zuerst Ajia Napa. Der Küstenort mit seinem Riesenrad und den vielen Hochhäusern wirkt wie ein kleines London. Die Gegend ist auch genauso überfüllt wie die englische Hauptstadt. Sogar die Autos fahren links, wie überall auf der Insel - ein wichtiger Katalysator für das britische Flair hier (was nicht unbedingt positiv gemeint ist). Am Strand, der sich bei Ajia Napa über eine oft photographierte Sandbank mit einer kleinen Insel verbindet, stellt sich heraus, daß die Sandbank längst fortgespült, ja, daß offenbar der gesamte Strand vor Jahrzehnten aufgeschüttet und dann sich selbst überlassen wurde. Allerdings ist er immer noch gut dafür, so viele kostenpflichtige Liegestuhl-Sonnenschirm-Kombos und Strandbars aufzustellen, wie man unterkriegt. Den Briten, die hier jahrzehntelang dem Tourismus ihren Bedürfnisstempel aufgedrückt haben, ist das scheinbar recht so. Wir haben hier leider keinen Auftrag - für die Schaumparty ist die Saison noch zu früh, auch russische Maturaklassen feiern erst im Hochsommer. Zu den Klängen einer brüllenden Kinder-Abendanimation verabschieden wir uns für immer von jenem Ajia Napa, das vor 20 Jahren noch als wunderschön in der Erinnerung vieler Reisender zu bleiben wußte.

 

Vergnügungsmeile von Protaras: Fleisch und Plastik

 

Hat man das Kap Greco im Osten oberhalb von Ajia Napa hinter sich gelassen, wird die Küste schroff und nur selten von kleinen Buchten unterbrochen. Oberhalb der zerfurchten Strandlinie wurde eine nahezu lückenlose Betonwüste geschaffen. Hier wird die Tragweite der zyprischen Tragödie zur Gänze begreifbar. Erschreckend, was hier bautechnisch verbrochen wurde: Die gesamte Küste ist mit nahezu identischen, billigst hergestellten Reihenhäusern zugestellt. Die Bausubstanz verfällt vor dem Auge des Betrachters. Daß hier mindestens die Hälfte der Häuser niemals fertiggebaut werden wird, sieht jeder sofort. Daß 90 Prozent der fertigen Gebäude leerstehen, kommt erschwerend dazu. Vor einer verlassenen Wohnanlage, deren Swimmingpool man einfach mit Beton zugegossen hat, weil kein Geld mehr für seine Wartung da war, entdecken wir mehrere geparkte Autos, die uns stutzig machen. Die Nummerntafeln sind dran, die Fenster halb geöffnet, im Radio steckt eine CD, doch die dicke Staubschicht auf den Armaturen, die Korrosion an der Wetterseite und die platten Reifen machen klar, daß die Besitzer längst über alle Berge sind. Hier herrscht Endzeitstimmung, alles ist verlassen. Protaras ist auf dem besten Weg zur Geisterstadt.

 

Eine der unfertigen Reihenhaussiedlungen in Protaras, verlassen und bereits stark überwuchert

 

Freilich gibt es auch belebtere Streifen - zum Beispiel das Zentrum, eine Straße mit ausschließlich Touristen-Shops und Freßbuden. Ein riesiges McDonald´s-M thront in luftiger Höhe über der Konsummeile. Viele der Tavernen kämpfen mit allen Mitteln um Gehör. Manch einer hat aus Papiermaché und Beton eine Art Geisterbahn-Taverne erschaffen, die bestens in den Wiener Prater oder nach Las Vegas passen würde. Auch die Chinesen haben Freßpaläste aufgezogen; der größte davon ist allerdings verödet, so wie etwa jede siebte Bude hier. Der Lärm ist trotzdem zu nervig, um zu bleiben. Von der Discobar zieht eine endlose Fontäne von Seifenblasen die Straße runter - Aufmerksamkeitserhaschung zur niedrigstmöglichen Preis. Der Appetit ist uns vergangen.

 

Mit solchen Siedlungen ist die Küste rund um Aija Napa geradezu gepflastert.

 

 

Fortsetzung folgt ...

Print_ Jennifer McMahon - Winter People

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Was würde der King wohl tun?

Ein Kratzen aus dem Schlafzimmerschrank, das Scharren nackter Füße auf dem Holzboden ... Der Horror, den die US-Autorin in ihrem Debüt entfacht, ist zu schlicht, um richtig zu gruseln.

Nach durchzechter Nacht mit ihrem Freund Buzz erwacht die 19jährige Ruthie mit einem höllischen Kater. Seltsamerweise fehlt von ihrer Mutter Alice jede Spur. Da die Frau Mama als überzeugter Althippie die Polizei nicht mag, machen sich Ruthie und ihre kleine Schwester selbst auf die Suche nach der Verschwundenen. Dabei stoßen sie auf ein altes Tagebuch - die geheimen Aufzeichnungen von Sara Harrison Shea.

Eben dieses Tagebuch bildet die zweite große Handlungsebene von "Winter People". Vor 100 Jahren nämlich hat Sara Harrison Shea in Ruthies Haus gelebt. Nachdem ihre Tochter Gertie tragisch verstarb, machte Sara eine folgenreiche Entdeckung: Es gibt nicht nur ein Leben nach dem Tod, sondern man kann Tote sogar wieder zurück ins Leben holen - für sieben Tage. Für die verzweifelte Mutter ist das die letzte Chance. Noch einmal kann sie für kurze Zeit ihr geliebtes Kind im Arm halten und sich gebührend von ihm verabschieden. Erfahrene Horrorleser ahnen natürlich schon, daß die Sache einen Haken haben muß ...

Jennifer McMahons Debüt kommt ganz zweifellos daher wie eine Mixtur aus "Friedhof der Kuscheltiere" und "Haunted House". Das liest sich zwar durchaus interessant, doch rechte Spannung, geschweige denn Grusel mag trotzdem nicht aufkommen. Dazu verliert sich McMahon zu oft in seitenlangen Rückblenden, mit denen sie die Vergangenheit ihrer Figuren ausleuchtet. Natürlich ist das alles entsetzlich tragisch und zudem wichtig für den Verlauf der Geschichte, da die Autorin neben dem eigentlichen Familiendrama um Ruthie und Sara noch eine Krimihandlung mit überraschenden Wendungen entwickelt. Dabei geht allerdings verloren, was eigentlich für Spannung sorgen sollte: der Gruselfaktor. Ein gelegentliches Kratzen aus dem Schlafzimmerschrank, das Scharren nackter Füße auf dem Holzboden, ein dunkler Schatten im Wald, das ist definitiv zu wenig - und außerdem hat man es schon Dutzende Male anderswo gelesen.

Bleibt die Frage zum Schluß: Was wohl ein Stephen King aus dieser Idee gemacht hätte?

Jennifer McMahon - Winter People: Wer die Toten weckt

ØØØ
(The Winter People)

Ullstein (D 2014)

Kolumnen_ Miststück der Woche III/80

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Imelda May: "Tribal"


Mit Schwung in die Woche: Manfred Prescher startet diesmal mit einem erstaunlich quietschfidelen Stück Rock´n´Roll in den Tag. Der Song erzeugt richtig gute Laune.

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

One, two, three - das Schlagzeug fordert die restlichen Musiker zum Loslegen auf. Und dann geht der Standbaß in die vollen. Sowas funktionierte schon zu den Zeiten der Burnette-Brüder Johnny und Dorsey, klang freilich auch bei den Stray Cats oder Big Bad Voodoo Daddy sehr cool. Aber heute, im Jahr 2014, also 70 Jahre nach Louis Jordans "Mop Mop", 60 Jahre nach Elvis´ erster Single und immer hin auch schon 40 Jahre nach der Abdankung von Richard Nixon, müßte Rockabilly doch eigentlich ziemlich abgestanden wirken. So wie die Sektpulle, die man nicht mehr richtig zukorken konnte und die daher immer schaler werdend im Kühlschrank vor sich hinbrütet.

Nun ja, irgendwie ist alles doch anders - was speziell an JD McPherson aus Oklahoma und der Irin Imelda May liegt. Beide Künstler transferieren den uralten Sound ins Hier und Jetzt, setzen auf knackige Produktionen und frische Melodien. Und sie feiern damit ziemliche Erfolge. Wer will, kann das natürlich auch als Teil eines Phänomens sehen, das noch andere Musiker - etwa die Lumineers oder Mumford & Sons umfaßt. Ist halt alles irgendwie handgearbeitet, mundgeblasen oder mit den Füßen herumgepatscht, also per se nett und herzerwärmend. Daß beim Selbermachen oft genauso getretener Quark herauskommt wie bei den Elekronikfuzzis und Technikfricklern, hat natürlich etwas mit persönlichen Mängeln an Kreativität, Inspiration und Können zu tun - weil Kunst halt immer noch von Können kommt. Das gilt selbst für die niederen Künste. Will man etwa der Frage "Kunnst mir mal 5 Euro leihen" positiv begegnen, muß man erstmal so viel Geld besitzen. So ist das Leben. Aber nun verlassen wir kurz mal die Ebene der pseudophilosophischen Weisheiten.

Imelda May ist die Königin des neuen Rockabilly. Der ersteht zum zigsten Mal aus Ruinen neu. Die zeitgleich mit Nixons Abtritt geborene Dublinerin erschafft ihn aktuell mit Schwung und einer Stimme neu, die sehr eigen ist und trotzdem sowohl die Härte der jungen Wanda Jackson sowie den Samt von Doris Day umfaßt. Mit den letzten drei ihrer insgesamt vier Alben gelangte sie tatsächlich ganz nach oben in den Charts - und das nicht nur auf ihrer analog zum Rockabilly ebenfalls evergreenen Insel, sondern auch im Vereinigten Königreich rechts daneben. "Love Tattoo", "Mayhem" und jetzt "Tribal" sind freilich auch auf charmante Weise sehr sexy. Und dazu muß man die modetechnischen Selbstinszenierungen von Imelda May gar nicht sehen oder vor dem geistigen Auge verfügbar haben. Man und auch frau muß sie nur hören. Wer auf selbstbewußt-starke Frauen steht, genieße die Kraft von "Five Good Men", wo sie die Gitarrenbreitseite ihres Ehemanns und Bandmitglieds Darrel Higham locker im festen Griff ihrer Stimme hält. Oder "Tribal", wo sie uns alle mit wenigen Worten zu Mitgliedern des "Rockabilly-Stamms" macht.

 

 

Aber nicht nur die Stimme ist sexy, sondern auch die Art, wie Imelda May Sprache verwendet: Sie singt im Rhythmus und im Groove, führt den Song und die Band. Das ist beeindruckend, es bezirzt. Ob Imelda May als Frau sexy ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle, ihr Spiel ist es. Vielleicht verhält es sich ja mit eurem Kolumnisten ähnlich? Analog zu Frau May ist er zwar auch nicht der letzte Grottenolm, aber eben doch nicht Herr Adonis persönlich. Der wurde nämlich bekanntermaßen schon lang vor dem Abgang des 37. US-Präsidenten aus dem Weißen Haus von einer Wildsau - aber nicht von Nixon - über den Hades geschickt. Und obwohl der Kolumnist eigentlich nicht wirklich sexy ist, lockt seine Art zu Schreiben sapiosexuelle Weibchen an. Ihr könnt ja ruhig mal nachgockeln, was das Fremdwort bedeutet. Müßt ihr aber nicht: Sapiosexuell veranlagte Zeitgenossen fühlen sich von der Intelligenz eines anderen Menschen angezogen. Das erklärt so manche Partnerschaft, sicher auch in eurem Umfeld. Und da ich weiß, daß das so ist, schreib´ ich ohne Unterlaß für Euch.

Selbstverständlich bietet diese Kolumne - analog zur Musik von Imelda May - genug Projektionsfläche für die eigene Intelligenz, denn genau darum geht es. Die Irin läßt es nicht nur krachen, sie zitiert, macht sich Pop-Historie untertan und spielt mit uns auf allerhöchstem Niveau. So muß und wird es auch fürderhin sein, vorausgesetzt natürlich, daß die Welt nicht komplett verblödet, es also auch in Zukunft noch kluge, charmante, gebildete und sprachgewandte Cleverle geben wird. Dann werden auch weiterhin coole Sounds bzw. Kolumnen erschaffen. Da habt ihr mein Wort drauf - und das von Imelda May.

Nächste Woche werde ich euch über die neue CD von Lana del Rey berichten, die gerade meinen Schreibtisch ein quadratisches Stück weit bedeckt. Noch suche ich zwar die richtigen Worte dafür, aber euch sapiosexuell veranlagten Mitmenschen da draußen zwischen Obereinherz und Niederdingenskirchen sei versichert, ich werde sie für euch finden. Das Warten lohnt sich also. Bis es soweit ist, lest etwas Interessantes - zum Beispiel "Baba Jaga" von Toby Barlow.

 


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Imelda May: "Tribal"

Enthalten auf der gleichnamigen CD (Decca/Universal)


Stories_ Karzlheinz Böhm/ "Peeping Tom"

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Goodbye, Franzl!

Am 29. Mai ist Karlheinz Böhm mit 86 Jahren verstorben. Für die einen wird er auf ewig "Sissi"-Ehemann Kaiser Franz Joseph bleiben. Wir erinnern uns lieber gemeinsam mit Reinhard Jud an ihn - in Michael Powells genialem Thriller "Peeping Tom".

 

Ursprünglich wollte Regisseur Michael Powell die Rolle des Mark Lewis in "Peeping Tom" mit Laurence Harvey besetzen. Der war aber nach dem Erfolg mit "Room at the Top" bereits auf dem Weg nach Hollywood. Powell lernte Karlheinz Böhm bei einem Cocktailempfang in London kennen. In seiner schüchternen, übersensiblen Art schien er ihm ideal für die Rolle; doch der Regisseur spekulierte auch mit der Last des berühmten Vaters, des Dirigenten Karl Böhm.

Zur Handlung: Mark Lewis ist der Sohn eines angesehenen Psychoanalytikers, der sich auf dem Gebiet der Angstforschung hervorgetan hat. Er arbeitet als Kameraassistent in einem Filmstudio und verdient sich nebenbei als Photograph von unter dem Ladentisch gehandelten Aktbildern etwas Taschengeld, um seine Obsession zu finanzieren: das Festhalten von Angst mit einer kleinen 16mm-Kamera.

Mark ist Voyeur und macht sich den Zuschauer zum Komplizen. Zu Beginn folgt er einer Prostituierten aufs Zimmer, wir sehen nur sein Auge, den Griff zur Kamera, den Rest aus seiner Perspektive auf Filmmaterial. Die Prostituierte entkleidet sich, Mark richtet ein Bein vom Stativ auf und enthüllt ein Stilett am Ende, dann nähert er sich der Prostituierten. Nach knapp fünf Minuten Laufzeit wird bereits sein Gesicht identifiziert, als er am Morgen vor dem Haus steht und den Abtransport der Leiche filmt.

Der Schwerpunkt des Films liegt nicht in der Ermittlung des Täters, sondern in der Annäherung an dessen gequälte Persönlichkeit. Die polizeiliche Arbeit nimmt ihren routinierten Verlauf, der Wiener Psychiater, der hinzugezogen wird, erweist sich als Trottel und trägt nichts weiter zur Aufklärung bei. Eigentliche Gegenspielerin von Mark ist die blinde Untermieterin, die Mutter von Helen, dem unscheinbaren Mädchen, zu dem Mark Vertrauen faßt. Helen will nicht zum Film und sich auch nicht zu anstößigen Zwecken photographieren lassen. Das steht für ihn außer Frage. Ihre Mutter sieht nichts, jedenfalls nicht mit den Augen, aber sie spürt Marks Angst.

Mark wurde als Kind von seinem Vater als Versuchsobjekt benutzt. Er warf ihm Schlangen und Spinnen ins Bett, um seine Reaktionen mit der Kamera festzuhalten. "Geht es noch schlimmer?" fragten sich Kritiker damals. Sie beschrieben ihr Bedürfnis, das Kino zu verlassen, empfahlen, den Film im Klo runterzuspülen, ihn im Kanal zu versenken.

Für Michael Powell bedeutete "Peeping Tom" mit 55 Jahren das Ende seiner Karriere. Der Effekt auf die weitere Entwicklung von Karlheinz Böhm wird oft fehlinterpretiert. Er ging nach Hollywood, bekam jedoch wegen eines schlechten Agenten mit Ausnahme einer Nebenrolle in Vincente Minellis "The Four Horsemen of the Apocalypse" keine Gelegenheit, sich zu profilieren.

 

 

Der Skandal von "Peeping Tom" war sicher nicht geplant, weder vom Regisseur noch von den Geldgebern. Michael Powell wußte aber von der Notwendigkeit, eine neue Richtung einzuschlagen. Von 1942 bis 1957 betrieb er mit seinem Drehbuchautor Emeric Pressburger die Produktionsfirma The Archers. Ihre erfolgreichsten Filme, auch künstlerisch, erschienen unmittelbar nach Kriegsende: "A Matter of Life and Death", "Black Narcissus", "The Red Shoes", "Gone to Earth" - und das mit einem Absolutheitsanspruch an das Medium, einem Ausreizen der Mittel, mit dem sie Handlungen in die Abstraktion überführten, in maßlose Übersteigerungen, choreographierte Bewegungen und Einstellungsfolgen nach Farbpartituren. Das nahm in den 50er Jahren mit den Tanzfilmen "Hoffmann´s Tales" und "Oh Rosalinda" immer exzentrischere Züge an.

Michael Powell wußte vom Ende des klassischen Kinos. Die letzten Archers-Produktionen waren kaum noch erfolgreich gewesen; Ende der 50er Jahre machte sich in England eine neue Generation, Vertreter des Free Cinema, mit ihren ersten Filmen bemerkbar: Jack Clayton mit "Room at the Top", Karel Reisz mit "Saturday Night und Sunday Morning", Tony Richardson mit "The Loneliness of the Long Distance Runner".

Diese Kitchen-Sink-Dramen standen in ihrem Realismus in krassem Gegensatz zur Romantik und Eleganz der Archers-Produktionen. Realistische Außenaufnahmen kommen in Peeping Tom" erst gegen Ende vermehrt zum Einsatz, im Sinne einer Bedrohung für Mark Lewis, als sich die polizeilichen Ermittlungen auf ihn konzentrieren. Für seine Innenwelt, die in fetischistischen Fixierungen verfangen ist, bieten sie keine Entsprechung.

Powell dreht 1969 in Australien das erotisch angehauchte Künstlerdrama "Age of Consent" und 1972 noch einmal mit Emeric Pressburger den Kinderfilm "The Boy Who Turned Yellow". Neben Alfred Hitchcock und Carol Reed gilt er als einer der großen britischen Regisseure der klassischen Periode. Reed versank nach "Our Man in Havana" von 1959 in der Bedeutungslosigkeit amerikanischer Großproduktionen; Hitchcock geriet in den 60er Jahren mit flauen Agentenfilmen auf einen künstlerischen Tiefststand und arbeitete jahrelang, inspiriert von Michelangelo Antonionis "Blow Up", an "Kaleidoscope", einem stilisierten Sex & Crime-Film über einen psychopathischen Frauenmörder, dessen Realisierung von den Studios strikt verweigert wurde - bevor er schließlich 1972 in London "Frenzy" drehte: die Geschichte eines Krawattenmörders, mit expliziten Sexszenen und Anna Massay, der Darstellerin von Helen in "Peeping Tom", in einer maßgeblichen Nebenrolle. Der Film wurde allgemein als Comeback des essentiellen Hitchcock gefeiert, von Aufregung gab es keine Spur mehr.

 

Peeping Tom

ØØØØ

Import-Tip GB: Optimum Home Entertainment (GB 1960)

DVD Region 2
101 Min. + Zusatzmaterial, engl. OF

Features: Audiokommentar von Ian Christie, Einführung von Martin Scorsese, Featurettes: "Eye of the Beholder" & "The Strange Gaze of Mark Lewis"-Featurette, Interview mit Thelma Schoonmaker u. a.

Regie: Michael Powell

Darsteller: Karlheinz Böhm, Moira Shearer, Anna Massey u. a.

 

(Anm. d. Red.:) Die britische Special Edition von Optimum Home Entertainment ist derzeit die am besten ausgestattete Heimkino-Variante von "Peeping Tom" bzw. "Augen der Angst". Der Film liegt auch als "50th Anniversary Edition"-Blu-ray vor. Alternativ dazu gibt es ihn als US-Import aus dem Hause Criterion (mit Audiokommentar von Laura Mulvey und der Dokumentation "A Very British Psycho") oder als schwach bestückte deutsche DVD-Veröffentlichung von StudioCanal im Rahmen der Arthaus Collection Klassiker.

Print_ Print-Tips Spezial

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Schmauchspuren #24

Leatherface in Schottland? Ein J-Horror-Plot im gemütlichen Wien? New Hollywood im Taschenbuch? Diesmal denkt unser Krimiexperte Peter Hiess beim Lesen dauernd an Filme. Schließlich hängt in der Welt der Populärkultur ohnehin alles zusammen.

Stuart MacBride - Blut und Knochen


Goldmann-Tb. 2009

Der Titel verspricht nicht zuviel, im Gegenteil: In Stuart MacBrides Blut und Knochen wird beides an besonders grauslichen Tatorten entdeckt, zusammen mit Menschenfleisch, das in die Nahrungskette gelangt. Detective Sergeant Logan McRae von der Polizei in Aberdeen vermutet zu Recht, daß nach jahrelanger Pause der "Fleischer" wieder aufgetaucht ist und seine Opfer brutal abschlachtet - um einiges weniger kultiviert als sein amerikanischer Kollege Hannibal Lecter. Auch die Polizei hat mit den US-Genrevertretern wenig gemeinsam. Statt high-tech-gestützt zu ermitteln, watet sie knöcheltief durch den Abschaum der Menschheit, betrinkt sich am Abend im Pub, schlägt sich mit cholerischen Chefs herum und ernährt sich von schädlichem Euro-Junkfood. Blut und Knochen verhält sich somit zum üblichen Hollywood-Serienmörderkrimi wie "Trainspotting" zu "Requiem for a Dream"; der Roman ist hart, realistisch und entdeckt auch im schlimmsten Blut-und-Beuschel-Massaker noch tiefschwarzen Humor. Absolute Empfehlung.

Andreas Gruber - Die Engelsmühle & Schwarze Dame


Festa 2008 & 2007

Dasselbe gilt für den Roman Die Engelsmühle des Österreichers und dreifachen deutschen Phantastikpreisträgers Andreas Gruber, der in seinem zweiten Thriller um den Versicherungsdetektiv Peter Hogart ebenfalls nicht vor (literarischer) Gewalt zurückschreckt. Am Anfang steht der Mord an einem pensionierten Wiener Arzt, der in seiner Villa grausam ermordet wird. Und da Hogarts Bruder in den Fall verwickelt ist, nimmt sich der Ermittler der blutigen Affäre an.

Der Killer sucht nach einem Videoband, auf dem eine kurze Schwarzweißszene in einem Spital zu sehen ist; dabei mordet er sich durch die Stadt, dem Detektiv immer einen Schritt voraus. Die Auflösung des Falls ist spannend und hervorragend konstruiert, der Protagonist auf zerknautschte Art sympathisch, und der gruslige Krimi macht Lust auf mehr. Das führte dazu, daß der Autor dieser Zeilen den Vorgänger Schwarze Dame aus dem Regal holte und sich vom ersten Hogart-Roman ins winterliche Prag entführen ließ, wo sich aus einer Kunstbetrugsaffäre eine mindestens ebenso filmreife Mordserie entwickelt. Worauf wartet der ORF noch?

Monika Geier - Die Herzen aller Mädchen


Ariadne/Argument 2009

Man könnte sich diese Frage auch in Bezug auf deutsche TV-Sender stellen, die es bisher verabsäumt haben, die großartigen Romane um die Pfälzer Kriminalkommissarin Bettina Boll (an dieser Stelle bereits mehrfach gelobt) ins Hauptabendprogramm zu bringen. Der fünfte Teil der Reihe heißt Die Herzen aller Mädchen und führt die alleinerziehende (Adoptiv-)Mutter mit der scharfen Kombinationsgabe ins Milieu der Literaten, Büchersammler und nostalgischen Spionagegeschichten. Als Leser vermißt man hier zwar ein bißchen die Beschreibung der Provinzmentalität, die die Vorgänger so attraktiv machte - aber wer will sich schon wiederholen? Also: trotzdem wieder ein Treffer.

Time for Hardcase Crime

Shepard Rifkin - The Murderer Vine

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2008

 

Donald E. Westlake - Somebody Owes Me Money

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2008

 

Ein Gewinn für Kenner sind auch die Bände 43 und 44 der US-Pulp-Reihe Hard Case Crime, beides längst fällige Wiederentdeckungen. Shepard RifkinsThe Murderer Vine aus dem Jahre 1970 schickt einen New Yorker Privatdetektiv in die Südstaaten, wo er die Morde an Bürgerrechtlern (à la "Mississippi Burning") aufklären und mit den Tätern - gar nicht unsympathisch beschriebenen "good ole boys" - kurzen Prozeß machen soll. Trotz Vigilantengerechtigkeit und einer beginnenden großen Liebe verläuft das Ende des Romans alles andere als happy und erinnert damit an die New-Hollywood-Ära, wo man sich im Kino auch andere Wege zu beschreiten traute.

Somebody Owes Me Money (1969) von Donald E. Westlake liefert hingegen bewährte, mit Miniröcken aufgepeppte Krimiware. Der Held ist ein junger New Yorker Taxler ohne große Ambitionen, aber mit einer ungesunden Begeisterung fürs Glücksspiel. Als er sich eines Tages einen hohen Pferdewettengewinn abholen will, findet er seinen Buchmacher ermordet vor und wird daraufhin in den Krieg zweier Verbrecherbanden verwickelt, die beide glauben, daß er mehr weiß, als er sagt. Westlake erzählt amüsant wie immer und kommt ohne Femme-fatale-Klischees aus. Erfrischend.

Edward Bunker - Lockruf der Nacht


Liebeskind 2009

Ein kleiner, mieser Gauner, der sich und seine Cleverness permanent überschätzt, 1962 im kalifornischen Küstenort Oceanview als Junkie durchs Nachtleben streift, Polizeispitzel und Freundesverräter ist, stets nach dem großen Geld sucht und bei den Frauen längst nicht so gut ankommt, wie er vermutet: Lockruf der Nacht ist viel zu realistisch, um nette Krimiunterhaltung zu sein. Kein Wunder, stammt er doch vom amerikanischen Berufsverbrecher Edward Bunker, der in den 70ern etwas literarische und Kino-Berühmtheit erlangte. An diesem einst verschollenen Debütroman kann’s nicht liegen - der verspielt durch seinen Mangel an sympathischen Figuren selbst viel Sympathie ...

"Schmauchspuren"

... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Kino_ Boyhood

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12 Years a Boy

Viele halten Richard Linklaters Coming-of-Age-Story schon jetzt für den "Film des Jahres". Das ist "Boyhood" natürlich nicht. Sehenswert ist das verblüffende Projekt trotzdem, wie Hans Langsteiner weiß.

"Film des Jahres" (so die derzeit überall zu lesende Headline) dürfte etwas übertrieben sein, aber etwas Besonderes ist diese fast dreistündige Familiengeschichte schon. Der Grund dafür hat sich herumgesprochen: Richard Linklater ("Before Midnight" etc.) hat die knapp anderthalb Jahrzehnte umfassende Coming-of-Age-Story seines jugendlichen Protagonisten auch in knapp anderthalb Jahrzehnten gedreht, das heißt, das Kind, das man am Beginn träumend in einer Sommerwiese liegen sieht, und der etwas muffelige junge Mann, der zuletzt ins Studentenleben aufbricht, ist auch "real" derselbe Mensch. Das Resultat dieser filmhistorisch ziemlich einmaligen Methode ist verblüffend: Man sieht gleichsam dem Leben selbst beim Werden und Vergehen zu. Was sich konkret ereignet, ist nicht ganz so aufregend: Beziehungen werden angeknüpft und scheitern wieder, Patchwork-Familien finden zusammen und gehen auseinander, und auch die erste Liebe ist nicht von Dauer. Interessanter als solche Alltäglichkeiten sind die authentischen Zeitschnipsel, die vom Rand her ins Geschehen ragen: klobige Computerspiele, erste Obama-Werbefeldzüge (die auf einen köstlich rassistischen Nachbarn treffen) und auch sonst jede Menge Zeitgeist. Allemal sehenswert!

 

Boyhood

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USA 2014

164 Min.

Regie: Richard Linklater

Darsteller: Patricia Arquette, Ethan Hawke, Ellar Coltrane u. a.

Termine_ In Memoriam: John Wayne

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Remember the Duke

Am 11. Juni jährte sich der 35. Todestag des größten Cowboys aller Zeiten. Die EVOLVER-Redaktion erinnert sich mit Thomas Fröhlich an den Mann mit der Winchester.

 

Man mag es zugeben oder nicht: Johne Wanye war DIE amerikanische Filmschauspielerlegende des 20. Jahrhunderts. Ob man ihn liebt oder haßt - ihn zu ignorieren ist unmöglich. Thomas Fröhlich sattelte sein Pony, griff zur Rifle und begab sich ins Monument Valley, um im Sand kinematographischer Mythologie zu graben ...

Lesen Sie hier seinen Nachruf, erfahren Sie hier mehr über den klassischen Western-Roman, lassen Sie sich hier auf den Geschmack von Blei bringen und lesen Sie hier, was Marcus Stiglegger über Wayne zu sagen hat. Zum Abschluß verraten wir Ihnen in unserem DVD-Tips Spezial: Vietnam-Filme noch, welche Aufgabe der Duke in einer fiktiven Söldnertruppe gehabt hätte.

 

Blu-ray-Tip: Der schwarze Falke

ØØØØ 1/2
(The Searchers)

Warner (USA 1956)

DVD Region 2
119 Min. + Zusatzmaterial dt. Fassung oder engl. OF

Features: Audiokommentar von Peter Bogdanovich, Featurette: "A Turning of the Earth": John Ford, John Wayne und 'Der schwarze Falke'" u. a.

Regie: John Ford

Darsteller: John Wayne, Jeffrey Hunter, Vera Miles u. a.

Stories_ Reisebericht Zypern, Teil II

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Die Einheimischen und die Krise

Im zweiten Teil des Zypern-Reiseberichts unterhält sich Klaus Hübner mit den Besitzern einer Taverne in Protaras und mit seinen AirBnB-Vermietern - allesamt direkte Leidtragende des Zusammenbruchs des hiesigen Kreditwesens.

Zypern konfrontiert den Urlauber in der Nebensaison mit allerlei Ungemach: leere Tavernen, kaum frisches Essen, Hotelruinen und Geisterstädte, durch die der Wind pfeift, vor sich hinschimmelnde, unverkaufte Reihenhäuser. Noch dazu werden Sparguthaben enteignet, und die Jugend trauert dem verlorenen Wohlstand nach. Ein Stück Beinahe-Paradies findet sich dennoch - jenseits der EU-Außengrenze. Ein Lokalaugenschein von Klaus Hübner. Lesen Sie hier den ersten Teil: "Urlaub auf der Geisterinsel

 

Taverne im Betonfriedhof: Athanasios (Name v. d. Red. geändert) und Gattin haben schon bessere Zeiten gesehen. Umso königlicher wird jeder Gast behandelt.

 

Tags darauf macht am frühen Nachmittag eine unauffällige Taverne an der Hauptstraße mit kleinen Tischen unter schattenspendenden Weinranken das Rennen. Wir sind die einzigen Gäste. Athanasios, ein graumelierter Einheimischer, führt den Laden gemeinsam mit seiner omahaften Gattin. Ihr Enkel, ein ausgewachsener, lächelnder Jüngling, hilft aus. Es sind überaus freundliche Leute. Sie verwöhnen uns mit Sonderbeigaben, die wir nicht bestellt haben. Sogar von den wenigen Papayas, die im Garten geraten sind, dürfen wir naschen. Und wir bekommen einen kleinen Sack Orangen Marke Eigenbau mit nach Hause.

Früher hätten die beiden ein tolles Restaurant in Famagusta gehabt, erzählt uns Athanasios. Aber dann kamen die Türken. Athanasios mußte fliehen, alles zurücklassen. Er baute sich in Ajia Napa mit staatlicher Hilfe eine neue Existenz auf; das Geschäft florierte und wuchs jahrzehntelang. Eines Tages im dritten Jahrtausend wurde ihm der Trubel zuviel, und er entschied sich für eine ruhigere Taverne in Protraras. Die Tavernen in den neu erschlossenen Touristengegenden konnten damals noch fix damit rechnen, daß die Bungalows, die rundherum aus dem Boden gestampft wurden, sich auch mit "Engländern" füllen würden. Diese Mieter oder Eigentümer hätten dann die Tische in Athanasios´ Taverne besetzen sollen. Aber das ging sich knapp nicht mehr aus. 2008 kam die Wirtschaftskrise, und mit ihr gingen die Gäste. 90 Prozent der Reihenhäuser, in denen sich die Kundschaft hätten ansiedeln sollen, blieben leer, die Hälfte überhaupt im bereits erwähnten Betongerippestadium hängen.

Von den Engländern, an die Zypern gewohnt war, kommen jetzt vielleicht noch fünf Prozent. Und die Russen, die heute zumindest pauschalangebotsmäßig nachziehen, verstehen Athanasios und die seinen nicht. An Ende wurden dem alten Mann von den 160.000 Euro, die er sich sein Lebtag lang erspart hatte, 60.000 Euro weggenommen - staatliche Enteignung, um Banken zu retten und EU-Rettungsschirm-Richtlinien zu erfüllen. Die Tränen darüber hat Athanasios bereits alle vergossen. Jetzt fügt er sich resignierend in sein Schicksal und überschüttet seine wenigen Besucher mit extremer Gastfreundlichkeit. Wenn nicht alle zwei Minuten Zweitakt-Quad-Bikes und Mini-Strandbuggys mit rotgebratenen russischen Teenagern vorbeidonnern würde, könnte wenigstens so etwas wie melancholisches Urlaubsgefühl mit bitterem Beigeschmack aufkommen. Uns bleiben nur Mitgefühl und Hilflosigkeit. Die Situation ist ausweglos verfahren.

 

Die Betongerippesiedlung, deren Bewohner die Taverne von Athanasios beleben hätten sollen

 

Am Abend desselben Tages ergibt es sich, daß wir erstmals seit unserer Ankunft mit unseren AirBnB-Vermietern ins Plaudern kommen. Jannis ist Mitte 30, seine Frau Anita, eine gebürtige Polin, etwas jünger. Sie haben in jener Zeit geheiratet, als in Zypern scheinbar noch alles in Ordnung war. Jannis hatte einen bestens bezahlten Job in der Immobilienbranche; er plante Golf- und Tennisplätze für die Luxussiedlungen an der Küste, hatte ein Motorboot und Partygeld wie Heu. Anita fand ebenfalls ein tolles Auskommen - als Hundefriseurin. In ihrer Mietwohnung in der Hauptstadt verbrachten sie die Wochentage und gingen zur Arbeit. Am Wochenende brachte sie der Range Rover nach Protaras ins Eigenheim am Meer, zum Feiern und Wakeboarden.

 

Geisterstädte aus Reihenhäusern und ausgehöhlte Hotels, zwischendrin läuft hier und da eine Sprinkleranlage. Vielleicht zehn Prozent der Häuser sind bewohnt.

 

2008 brach das alles zusammen. Jannis verlor seinen Job und mußte sein Boot verkaufen. Jetzt hat er bei einem russischen Hotelbetreiber als Wakeboard-Lehrer angeheuert, ein Halbtagsjob. Anita konnte ihren Job im Hundesalon zwar behalten, aber die Wohnung in Nikosia mußten sie aufgeben. Also pendelt Anita jetzt jeden Tag mehr als eine Stunde lang nach Nikosia und genausolang wieder zurück. Sie ist derzeit hauptverantwortlich dafür, daß die Raten für das Reihenhaus in Protaras noch bezahlt werden können. Ihre beiden Hunde, zwei gutmütige Riesenviecher, verbringen die Tage allein im staubigen Hinterhof. Sie freuen sich wie kleine Kinder über die geringste Zuwendung. Ins Haus dürfen sie nie, aber es riecht trotzdem intensiv nach Hund.

 

Einer der wenigen und gut vor Touristen versteckten Grenzübergänge zwischen der EU-Republik Zypern und der Türkischen Republik Nordzypern. Da darf man gleich einmal 20 Euro für die türkische Leihauto-Haftpflicht-Zusatzversicherung vorbereiten ...

 

Weil Anita das Geld besorgt, muß Jannis zum Ausgleich jedes Frühjahr einen eher unangenehmen Job übernehmen: Er hat den schwarzen Schimmel zu entfernen, der sich den feuchten Winter über innen an den Gipskartonwänden seinen Hauses großflächig ansiedelt. Da hilft nur Chlorbleiche, und dann muß neu ausgemalt werden. Ein wenig Kenntnis über die Art, wie diese Reihenhäuser gebaut sind, hilft zum tieferen Verständnis: Zuerst wird ein Betongerippe aufgezogen. Außen wird verputzt, innen werden auf die Betonwände dann die aus den mitteleuropäischen Dachausbauten bekannten Gipsplatten aufgeschraubt, die Kanten zugespachtelt und die Flächen schließlich mit Dispersion bemalt. Am Ende kommen Billigfliesen und eine Standard-Ausstattung der niedrigsten noch zumutbaren Kategorie hinein.

Nun ist Rigips aber ein reines Trockenbaumaterial und extrem ungeeignet für einen Bungalow an einer Küste wie jener Zyperns, die im Sommer sehr heiß und trocken, aber im Winter dauerfeucht und mitunter sehr kalt und stürmisch ist. Galoppierende Korrosion ist also vorprogrammiert; nach bestenfalls 15 Jahren ist so ein Häuschen sanierungs-, wenn nicht abbruchreif. Die Bauunternehmen, die den Wahnsinn hier verbrochen haben, taten dies im vollen Bewußtsein über ihren verantwortunglosen Pfusch. Sie müssen sich mit ihrem schnellen Geld wie Wall-Street-Banker gefühlt haben. Aber wer soll die chinesischen und britischen Investoren, deren Werbeschilder immer noch an den eingedrückten Zäunen der überwucherten Betongerippesiedlungen hängen, zur Rechenschaft ziehen?

 

Leere, unnütze, halbfertige Gebäude, so weit das Auge reicht: Auch die türkischstämmigen Zyprer sind der international finanzierten Baumafia aufgesessen.

 

So ist es also beschaffen um den Traum vom Eigenheim, der Anita nun dazu bringt, den leicht cholerischen Jannis zu ermuntern, sein neues Hobby - den Bau von Möbeln aus Euro-Holzpaletten - doch ernsthafter voranzutreiben. Man spürt die Anspannung in ihrer Gegenwart. Anita bringt ihr Maximum an Diplomatie auf, es fällt ihr nur in unbeobachteten Momenten sichtlich schwer. Aber zurück nach Polen? Das wäre trotzdem schlimmer - noch. Jannis ist seinen kruden Holzmöbeln auch durchaus ehrlich zugeneigt. Überhaupt ist seine Kompromißbereitschaft in den letzten paar Jahren immens gestiegen. Nur seinen Range Rover, ein Vintage-Modell mit 100-Liter-Tank, dem eine Fahrt durch kniehohes Wasser die Rücklichter irreparabel zerstört hat, würde er niemals hergeben.

Über den türkischen Norden sollte man in Jannis´ Gegenwart am besten überhaupt kein Wort verlieren. Die Türken sind für ihn "der Feind", mehr gibt´s darüber nicht zu sagen - nie im Leben würde er zu denen rüberfahren. Eines Tages wird er sich wieder ein Boot kaufen und eine eigene Wakeboard-Schule aufmachen, sagt er. Und dann wird er sich eine Yacht kaufen. Die muß mindestens zehn Meter lang sein, am besten 20, nein, 50. Luxus ist der Motor, der Jannis immer noch antreibt. Er hat von Kindesbeinen an nichts anderes gelernt.

 

Golden Beach, am obersten Nordostzipfel des türkischen Zypern. Griechen und Türken leben miteinander, die Natur hat noch eine Chance.

 

Unsere Neugierde für den türkisch besetzten Norden ist damit vollends entbrannt. Werden wir wenigstens dort noch etwas Natürlichkeit, Unberührtheit und Urlaubsfeeling bekommen?

 

Fortsetzung folgt ...

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