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Texte_ Simon Kernick

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Ohne Tempolimit


Er ist einer der Männer der Stunde. Nachdem der Goldmann-Verlag die deutsche Ausgabe seiner Werke aufgegeben hat, zeigt Heyne, wie man einen potentiellen Bestsellerautor durchsetzt: In kurzen Abständen werden Kernicks Thriller in den Markt gepeitscht - und finden ihre dankbaren Abnehmer, jenseits der Fans dröger deutscher Provinzkrimis oder skandinavischer Sozialdemokratie.

Simon Kernick gehört zu den britischen Autoren, die sich seit der Jahrtausendwende im Windschatten des Erfolges von Schriftstellern wie Lee Child oder Andy McNab als eine Art "new breed" des britischen Thrillers etablieren. Sie sind genauso von multimedialen Pop-Kulturtraditionen geprägt wie von den literarischen Traditionen des Genres. Sie gehören einer Generation an, die einen Bond-Film gesehen hat, bevor sie Romane von Ian Fleming oder Eric Ambler entdeckte. Und sie schreiben in einer Zeit, in der sie mit Fernsehserien wie "24", "Luther" oder "Spooks" um das Publikum konkurrieren. Denn diese und andere Serien, deren primäres Medium die DVD ist und denen die Erstausstrahlung im TV nur als Schaufenster dient, haben Einfluß auf Literatur und Rezeption.

Kernick ist das voll bewußt - und er hat es drauf. Ihm gelingt es, das Tempo der TV-Serien auf den Roman zu übertragen. Gleich auf der ersten Seite fängt er den Leser ein, schaltet den Motor seines Romans in Blitzgeschwindigkeit in den fünften Gang hoch und rast durch die Story, bis das Getriebe kracht. Den Leser beim Schlafittchen packen, und auf geht’s in die Turboachterbahn. Wie etwa bei "24" kann er durch das hohe Tempo eventuelle Plot-Unstimmigkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten überfahren, Widersprüche von der Fahrbahn kicken. Und wie "24" kommt er damit durch, weil er genügend Überraschungsmomente im Köcher hat. Wer das nicht mag, sollte die Finger von ihm lassen. Ich dagegen bin froh über Autoren, die nicht mit völlig psychopathischen Forensikstudien wie Patricia Cornwell oder Charakterquark wie die total durchgeknallte Mo Hayder daherkommen. Ich langweile mich zu Tode bei diesen Waltons-meet-Dr.-Lecter-Geschichten von Karin Slaughter oder Kathy Reich, und mir wird übel bei den Reißbrett-Slashern von Cody McFadyen oder der langweiligen Sozialdemokratie eines Henning Mankell (der Traum aller verlebten Thalia-Kundinnen).

 

Der 1966 in Slough geborene Kernick wuchs in Henley-on-Thames auf, einer Kleinstadt, fünfzig Kilometer von London entfernt. "Ich schreibe, seitdem ich einen Stift halten kann. Es hat Jahre gedauert und einige hundert Ablehnungen, bis ich mit 35 Jahren meinen ersten Vertrag bekam. Ich glaube, ich mußte einfach so lange üben und lernen, bis ich etwas Druckbares hinbekam."

Mit 19 ging er vom College ab und schlug sich mit einem Job als Transportmanager durch. Nach einem Jahr übersiedelte er nach Toronto, wo er wieder das College besuchte und sich verlobte. "Es hielt kein Jahr. Danach ging ich über Australien zurück nach England. Ich hatte Heimweh. Ich war in Brighton am Polytechnikum und machte anschließend die unterschiedlichsten Jobs: im Straßenbau, als Barkeeper oder als Holzfäller für Weihnachtsbäume. Schließlich etablierte ich mich als Handelsvertreter in der Computerbranche und blieb zehn Jahre dabei." Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Oxfordshire.

"In meiner Jugend war ich ein großer Science-Fiction- und Fantasy-Fan. Wahrscheinlich hat mich Tolkien am stärksten beeindruckt. Gefolgt von Michael Moorcock - insbesondere den Corum- und Runestaff-Zyklen. Großartig und völlig unterbewertet, wie vieles in dem Genre. Auf dem College entdeckte ich Raymond Chandler. Ich las 'The Big Sleep' in einem Rutsch. Es hat mich umgehauen und mir einiges beigebracht. Zum Beispiel, daß man nicht zuviel beschreiben muß. Weniger ist oft mehr, wenn es um Thriller geht. 95 Prozent von allem, was ich gelesen habe, war Kriminalliteratur inklusive einer ordentlichen Portion true crime."

Kernick sieht sich vor allem von amerikanischen Autoren beeinflußt und bewundert Leute wie Dennis Lehane oder Harlan Coben, den er - wen wundert’s - für seine überraschenden Wendungen schätzt. "Mein größter Einfluß war Lawrence Block. Ich habe alles von ihm gelesen - und er hat eine Menge geschrieben. Ich bewundere seine Vielseitigkeit. Er kann alles." 2004 hielt Kernick bei der Verleihung der Diamond Dagger Awards für Blocks Lebenswerk eine bewegende Laudatio auf sein Idol. Wie Block schreibt er in einem scheinbar kunstlosen Stil, der sich ganz der Geschichte unterordnet.

 

Begonnen hat er mit Noir-Romanen in der britischen Tradition. Sein Debut, "Tage des Zorns"/"Vergebt mir!" ("The Business of Dying", 2002), war ein rabenschwarzer Cop-Roman über einen Bullen, der nebenher Leute umbringt, die es nach seinem Wertesystem verdient haben und ihm zusätzlich ein bißchen Geld einbringen. Er wird von seinem Auftraggeber reingelegt und tötet bei einem Hit unschuldige Zollbeamte. Von da an geht es bergab, und schließlich muß er aus England fliehen. Im zweiten Roman über den Killer-Cop Dennis Milne, "Fürchtet mich" ("A Good Day To Die", 2005), lebt er als Gelegenheitskiller auf den Phiippinen. Als er vom Mord an seinem besten Freund und Expartner erfährt, kehrt er nach London zurück, um die Angelegenheit auf seine Weise zu regeln. Laut Aussage des Autors ist dies sein Lieblingsbuch.

Bei der Recherche zu "Tage des Zorns" lernte Kernick Beamte von der Metropolitan Police kennen. "Ich war überrascht, wie angefressen die waren. Sie fühlten sich von Politikern und ihren Chefs unter Druck gesetzt und empfanden sich als dämonisiert, nur weil sie ihre Arbeit taten. Sie hatten nicht genügend Instrumente, um die Kriminalität einzudämmen, und wurden von der Öffentlichkeit und denjenigen kritisiert, die ihnen diese Instrumente verweigerten. Sie blieben nur wegen der Pension dabei. Ich schickte das Manuskript an einen Agenten, der es ablehnte, nachdem er zuerst Interesse gezeigt hatte. Das traf mich ziemlich hart. Ich dachte daran, was Neues zu schreiben. Aber meine Frau Sally glaubte an den Roman. Ich schrieb ein paar Szenen um und fand eine Agentin, die das Buch anbot. Als mir Transworld einen Vertrag dafür und ein weiteres Buch anbot, nahm ich sofort an, ohne noch Reaktionen anderer Verlage abzuwarten. Das war eine gute Entscheidung. Die Copper waren ebenfalls zufrieden mit dem Buch, da ich keine Verfahrensfehler gemacht hatte."

Auch die drei anderen frühen Romane behandeln die düstere Welt des organisierten Verbrechens in Nord-London. "Mich hat die organisierte Kriminalität immer interessiert - in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Ich finde es bemerkenswert, daß man Kriminalität genauso wie ein normales Geschäft führen kann, direkt unter den Augen der Autoritäten, die kaum Interesse haben, etwas dagegen zu unternehmen."

 

Seine Cops wie Milne oder John Gallan und Tina Boyd gehören nicht der Inspector-Rebus-Garde an. Es scheint eher so, als wäre der 1966 geborene Autor von der Konventionen sprengenden Fernsehserie "The Sweeney" (1975-78) beeindruckt worden. "Die meisten meiner Charaktere basieren irgendwie auf realen Menschen. Bei meinen Recherchen stoße ich auf merkwürdige Typen." Und natürlich ist er beeinflußt vom Großmeister des Brit-Noir, Ted Lewis. "Lewis bekam nie wirklich die ihm zustehende Anerkennung für 'Jack´s Return Home' - für mich der beste britische Noir-Roman aller Zeiten." Kernicks Noir-Cop-Romane brachten neuen Wind in die britische Kriminalliteratur, die an den langweiligen Ermittlern der Colin-Dexter-John-Harvey-Ian-Rankin-Schule zu erstarren drohte.

Ab 2006 wechselte er die Richtung: Mit "Gnadenlos" ("Relentless") begann er seine "Potboiler", für die er heute bekannt ist und die ihn erfolgreich machten. Seine düstere Weltsicht hat er beibehalten, aber diese schnellen, Action-orientierten Romane konzentrieren sich auf den Kampf gegen die Zeit. Niemand kann Zeitdruck besser in Szene setzen als Kernick. Seine Thriller lesen sich passagenweise wie Vorlagen für Jason-Statham-Streifen und haben natürlich das Interesse der Filmindustrie auf sich gezogen. Einige Fans seiner frühen Romane mochten diesen Tempowechsel gar nicht, aber Kernick gelang damit der Ausbruch aus der Noir-Nische in die Bestsellerlisten. Trotz des Erfolges ist er ein pflegeleichter Autor, der sich tatsächlich noch bei "Siege" vom Verlag vorschreiben ließ, das Ende umzuschreiben und den Titel zu ändern. Hoffen wir mal, daß er einen fähigen Lektor hat(te). Aber jemand, der so lange und verbissen darum gekämpft hat, veröffentlicht zu werden, verliert nicht so schnell die Bodenhaftung. Die ersten vier Romane brachten zwar tolle Kritiken, aber wenig Geld. "Gnadenlos" hingegen war 2007 der erfolgreichste Kriminalroman in Großbritannien.

 

Die Idee für "Gnadenlos" kam Kernick durch einen Alptraum, den er in Toronto nach einem exzessiven Besäufnis hatte. Protagonist Tom Meron hört am Telefon, wie ein alter Schulfreund umgebracht wird. Seine letzten Worte sind Merons Adresse. Und schon verläßt der Höllenzug den Bahnsteig ... Der Nachfolger "Todesangst" beginnt mit einem Satz, der das Schicksal von Noir-Protagonisten Im allgemeinen und von Kernicks "Helden" im besonderen auf den Punkt bringt: "Kaum öffne ich die Augen, weiß ich, es wird ein Scheißtag." Der Ex-SAS-Soldat Tyler erwacht blutüberströmt neben der kopflosen Leiche seiner Geliebten und erinnert sich an nichts. Und dann geht es ab, daß der Leser aus der Kurve fliegt. Eventuelle Plot-Schwächen werden einem egal, weil man nur noch mit zitternden Fingern die Seiten umdreht. Kernick fährt mit Bleifuß und schaltet bis zum Finish nicht einmal runter.

Um das Tempo noch zu erhöhen, hat er "Todesangst" als bisher einzigen Roman im Präsens geschrieben - eine schwierige literarische Technik, die leicht albern klingt und am besten bei komödiantischen Handlungen funktioniert (siehe Peter Cheyneys Lemmy-Caution-Romane, die ich sehr unterhaltsam, aber nie spannend fand). In "Deadline" erzählt Kernick zwar in der dritten Person, wählt aber die Perspektive der Protagonistin, deren Tochter entführt wurde. Tausendmal gelesen und gesehen? Aber nicht so! "Deadline" ist Kernicks einziger Roman, der bei uns auch als Hörbuch vorliegt (Audiobuch Verlag). Wie Johannes Steck die Story vorträgt, das ist unglaublich! Sehr intensiv und dem Tempo entsprechend. Das sollte man nicht auf Kurzstrecken hören, sonst fährt man bis zum Nordkap durch.

Mit seinen On-the-Edge-Thrillern steht Kernick in der Tradition von Cornell Woolrich: Ein (vermeintlich) Unschuldiger gerät in eine Verschwörung, die er nicht durchschaut, und wird gehetzt. Von einer Sekunde auf die andere brechen Ereignisse in das Leben des Protagonisten ein, sodaß es völlig aus den Fugen gerät. Chandler sagte über Woolrich: "Der Mann mit den besten Einfällen, aber man muß ihn schnell lesen und darf ihn nicht zu genau analysieren; er ist zu fiebrig." Es wäre ungerecht, dieses Urteil eins zu eins auf Kernick zu übertragen. Aber ähnlich wie Woolrich ordnet er den Twists und dem Tempo alles unter. Dieser klassische Thriller-Topos läßt sich mindestens bis zu John Buchan zurückverfolgen. Es geht letztlich um Kontrollverlust - ein Lebensgefühl, das heute aktueller ist denn je. Manipulation und Kontrollverlust gipfeln in Verschwörungen. Seine düstere Weltsicht unterlegt Kernick auch in den Thrillern, wenn auch nicht so exzessiv wie in den Noir-Romanen. Als intelligenter Zeitzeuge spiegelt er den immer offeneren Moralverfall der westlichen Zivilisation seit dem Aufstieg der Neo-Cons.

 

Im Gegensatz zu Lee Childs Reacher-Romanen lassen sich die Plots von Kernicks Krimis nicht vorhersehen. Sobald man meint, man wisse, wie der Hase läuft, schlägt er eine überraschende Volte. "Meiner Meinung nach ist eine der wichtigsten Regeln, die Handlung unberechenbar zu halten. Das läßt den Leser die Seiten umblättern."

Eines von Kernicks liebsten Stilmitteln ist der "Cliffhanger": Auf dem Höhepunkt des Suspense wird auf eine andere Handlungsebene überblendet. Auch das wurde von "24" für das Fernsehen perfektioniert (und verdankt den TV-Melodramen fast soviel wie den Pulps; der "Tarzan"-Schöpfer Edgar Rice Burroughs war ein Meister dieser Technik). Virtuos ist auch seine Darstellung von Action jeglicher Art - von Schießereien bis Autojagden. Kein zeitgenössischer Literat bringt physische Aktion filmischer zu Papier.

Zur wie auch immer gearteten Unterstützung seiner Gehetzten bringt Kernick gerne Profis ein: die Polizisten Mike Bolt oder Tina Boyd. Dabei führt er vor, daß die Logistik durch staatliche Institutionen nie ausreicht, um den Gefahren und Problemen zu begegnen. Entweder ist sie nicht effektiv oder korrupt. Bei aller Konzentration auf Action (die freie Entscheidungsmöglichkeiten suggeriert) wurzeln Kernicks Thriller - wie Woolrichs - in einer klassischen Noir-Welt. Also in der Realität. Sein London hat nichts Gemütliches oder Idyllisches. Es ist eine zertrümmerte Stadt im Niedergang, beherrscht von penetranten Überwachungskameras, Gangs, skrupellosen Neubauten, Terroristen und einsatzbereit lauernden Hubschraubern, die in geringer Höhe über die Stadt knattern, um die Einwohner an Orwells faschistoide Zukunftsvision zu erinnern. Eine Welt von nur scheinbarer Geborgenheit im familiären Mittelschichtmilieu. Die typische westliche Metropole des neuen Jahrtausends, in der die Straßen von einem Moment zum anderen zu Schlachtfeldern werden können. Kernick zeigt eine kranke Gesellschaft, die von Manipulationen und Verschwörungen beherrscht wird.

 

Disziplin ist auch für diesen Schriftsteller die wichtigste Autorentugend: "Ich schreibe jeden Wochentag, manchmal auch während des Wochenendes. Mittags eine große Pause. Mein Ziel sind 2000 Worte pro Arbeitstag. Die Planung und Vorbereitung für ein Buch dauert etwa zwei Monate. Das Schreiben weitere sechs. Heute recherchiere ich nicht mehr soviel wie früher. Ich glaube nämlich, daß man auch zuviel recherchieren kann."

In der Regel bevorzugt er die erste Person als Erzählerperspektive. Die ist bei seiner Art von Thrillern sehr effektiv, da sie den Leser unmittelbar in die Geschichte saugt. Aber Kernick experimentiert auch gerne mal - und nicht weniger überzeugend: In "Instinkt" wechselt er vom Ich-Erzähler zum allwissenden Erzähler (der Tina Boyds Handlungen begleitet). In "The Murder Exchange" erzählen die beiden Hauptcharaktere, die Exsöldner Iversson und DS Gallan, in der ersten Person. "Das war schwierig. Ich mußte immer wieder feilen und feilen, damit jeder mit seiner eigenen Stimme sprach und nicht beide dieselben Phrasen droschen."

Kernicks Frauen sind genauso stark und überzeugend dargestellt wie die Männer. Auch Opfer wie Andrea in "Deadline" sind keine Weibchen, sondern selbstbewußte Frauen, die sich gesellschaftlich hochgeboxt haben und ebenso unbefangen mit ihrer Sexualität umgehen. Sie sind genauso wenig schwarz oder weiß gezeichnet wie seine männlichen Helden; alle haben dunkle und helle Seiten, ohne deshalb zu grauen Mäusen zu degenerieren. Es sind diese ökonomisch kalkulierten und knappen Charakterstudien, die von der oberflächlichen Kritik gerne übersehen werden. Aber ohne ihre Effektivität würden seine Pageturner nicht funktionieren. Er muß im Leser zumindest Empathie für seine Figuren wecken, wenn der ihnen auf seinen Höllentrips folgen soll.

Inzwischen kann er es sich leisten, auch einmal zu seinen Wurzeln zurückzukehren: In "Payback", (2011) bringt er DI Tina Boyd und Milne zusammen in einer mörderischen Rachejagd von London über Hongkong auf die Phlippinen. Tina Boyd, genannt "die schwarze Witwe" (weil ihr Nahestehende meist ein kurzes Leben haben), hat auch einen Cameo-Auftritt in "Siege" und wichtige Rollen in "Deadline" und "Target". Es scheint, daß Kernick in eine dritte Phase eintritt, die eine Synthese aus den frühen Noir-Romanen und seinen Speed-Thrillern formt.

"Meine frühen Bücher, die Cop-Noir-Romane, waren viel brutaler als meine Thriller. Ich glaube, die Menschen wollen nicht mehr so gewalttätiges Zeug lesen wie vielleicht noch vor zehn Jahren. Wir haben soviel extreme Gewalt in der Realität." Naja, der Bodycount in "Todesangst" kann auch einen McNab-Fan "befriedigen". Und den Psycho-Terror, den Kernick verbreitet, macht ein Verhör durch Jack Bauer zum adretten Folterspiel. Er hat die Fähigkeit, den Leser aufs Perfideste durch die Mangel zu drehen. Es gibt auch keine peinlichen Pornozenen in Kernicks Romanen - obwohl er Sex nicht negiert: "Als Kind war ich natürlich scharf auf Sexszenen in Krimis. Aber heute, als Autor, glaube ich nicht mehr daran. Sex ist überall verfügbar, und wer das will, braucht nur ins Internet zu gehen oder sich einen Pornofilm einzulegen. Ich mache das lieber ganz romantisch und blende ab einem bestimmten Moment aus. Alles sehr geschmackvoll."

Simon Kernick interessiert vor allem Gerechtigkeit. Wie es sich meistens gehört, bekommen die Bösen am Ende seiner Thriller ihre gerechte Strafe. "Jeder weiß doch, daß in der Realität die Bösen oft genug gewinnen. Das Schöne am Schreiben ist, daß ich in den Büchern Gerechtigkeit herstellen kann. Das macht Spaß. Andererseits wird man selbst immer paranoider, wenn man in diesem Genre arbeitet."


Literatur_ Olen Steinhauer - Last Exit

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Alles hat einen Grund


Zehn Jahre nach der Zerstörung des World Trade Center kämpfen Geheimdienstagenten längst nicht mehr für das Vaterland, sondern nur mehr für sich selbst.

Kein Wunder also, daß Milo Weaver, Held aus Olen Steinhauers Debüt Der Tourist, zunehmend an seinem Job verzweifelt. "Touristen" sind CIA-Agenten, die weltweit derart geheim operieren, daß sogar ein Großteil der CIA-Führung nichts von ihnen weiß. Nach so vielen Jahren im Dienst weiß Milo selbst nicht mehr, wer er eigentlich ist. Weshalb er am liebsten quittieren möchte, um bei Frau und Kind endlich zu sich selbst zu finden. Doch was er auch versucht, die Vergangenheit holt ihn.

Sein neuer Auftrag: Er soll ein junges Mädchen in Berlin entführen und spurlos verschwinden lassen. Warum er das Kind töten soll, wird ihm nicht verraten. Eine der Richtlinien für Touristen lautet: Stell keine Fragen. Erledige den Job. Alles hat seinen Grund. Ein anderer Leitsatz besagt: Hab keine Gefühle.

Genau daran scheitert der Job. Denn Weaver, inzwischen Vater, weigert sich, Kinder zu töten. Damit ist er untragbar geworden - und gerät selbst ins Fadenkreuz seiner eigenen Kollegen, die inzwischen aber noch ganz andere Gründe haben, um ihn aus dem Weg zu schaffen.

 

Schwer zu sagen, ob das, was Olen Steinhauer schildert, der Realität entspricht. Aber Kritiker vergleichen die Thriller des US-Journalisten gerne mit denen von John le Carré und Graham Greene, und das soll bekanntlich was heißen.

Falls also ein Hauch Wahrheit an Steinhauers "spy"-Geschichten dran sein sollte - und man ist geneigt, ihnen tatsächlich Glauben zu schenken -, dann sind die Frauen und Männer, die sich weltweit als Agenten verdingen, nur bedauerliche Geschöpfe. Keiner kämpft mehr heroisch um das Wohl des eigenen Landes, sondern nur noch skrupellos ums eigene Wohl. Das wichtigste Credo lautet: Traue niemandem - wenn überhaupt, nur deinem ärgsten Feind. Auf dessen Haß ist wenigstens Verlaß.

 

Bei all dem verworrenen Taktieren und Intrigieren der deutschen, amerikanischen, chinesischen, russischen und sonstigen Agenten und Geheimdienste scheint Steinhauer seine eigentliche Geschichte - nämlich die des jungen Mädchens in Berlin - mehr als einmal aus den Augen zu verlieren, was den Roman auf den ersten Blick unnötig in die Länge zieht. Doch wie es sich für einen ordentlichen Spionageroman gehört, darf man sich davon nicht täuschen lassen. Denn wie gesagt, eine der Tourismus-Regeln lautet: Alles hat seinen Grund.

Am Ende fügen sich alle Fäden zueinander. Und es bleibt die Erkenntnis: Ja, wir leben in einer verkommenen Welt.

Olen Steinhauer: Last Exit

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The Nearest Exit

Heyne (D 2011)

Termine_ Pantera Tribute Night

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Metal in Simmering


Mariä Empfängnis wird heuer heftig. Zum 7. Todestag von Gitarrist und Pantera-Mitbegründer Darrell Lance "Dimebag Darrell" Abbott – er wurde am Abend des 8. 12. 2004 von einem Amokläufer erschossen – besetzen heimische Metal- und Rockhelden gemeinsam die Bühne der Szene Wien, um ihm und seiner Ausnahmeband lautstark Tribut zu zollen.

Man kann es ja gar nicht oft genug sagen: Abseits hirntoter Castingshows für die großen chancenlosen Supersternchen aus der Peripherie und ironiebebrillten Diskurs-Pops aus Boboville gibt’s eine lebendige österreichische Musikszene, die sich einen Dreck um oberg’scheite Zuordnungen oder Formatradio-Kompatibilität schert.

Wie zum Beispiel die Metal Allstars Austria, die sich aus Mitgliedern diverser österreichischer Metalbands rekrutieren (Line-Up s. unten) und am 8. 12. 2011 die Pantera Tribute Night in der Szene Wien bestreiten. Oder die famosen Epsilon aus der Metal-Hochburg (sic!) St. Pölten, die als Opener vor der Coverbrigade die Songs ihres neue Albums "Truly Yours And In Love" präsentieren, wunderschönen Death Metal der alten Schule.

Danach wird das pt. Publikum eine ganze Nacht lang von den obgenannten Metal Allstars Austria mit ausgewähltem Pantera-Liedgut wie "Cemetary Gates", "I’m Broken" oder "Cowboys From Hell" unterhalten.

Eine Aftershow-Party im Café beendet das eingeschwärzt fröhliche Treiben beziehungsweise setzt diesem die dunkelbunte Krone auf.

 

Und aus diesem Anlaß freuen wir uns, 1x2 Karten verlosen zu dürfen. Sie brauchen uns nur eine gnackwatscheneinfache Frage beantworten:

 

Aus welcher Stadt stammt die Band Epsilon?

 

A. St. Petersburg

B. St. Pölten

C. St. Privat

 

Die Antwort mailen Sie uns bitte bis SPÄTESTENS 7. 12. 2011 Mitternacht an froehlich@evolver.at. Der Gewinner wird bis spätestens 8. 12. mittags benachrichtigt.

Wir warten ... 

Pantera Tribute Night by Metal Allstars Austria / Opener: Epsilon

Wo: Szene Wien, Hauffgasse 26, 1110 Wien

Wann: Donnerstag, 8. Dezember 2011, 19:30 Uhr

 

Tickets bei allen bekannten Vorverkaufsstellen, direkt bei den Bands und unter

tickets@boo-kings.at

Line-Up METAL ALLSTARS AUSTRIA:


MIKE & RUDE (BEFORE THE FALL)
SCHLOMO, GLUTZI, JANDRE & MIKE (BLACK INHALE)
DAVID & MAURO (CADAVER RACE)
STEFAN W. (CEMETERY GARDEN)
BEN & XANDL (DAYS OF LOSS)
PU JAN (ENEERA)
BORIS & NIKI (FULL CONTACT)
FIRE (GNP)
MAN & HARRY (MASTIC SCUM)
ANDREW VINCZE (PROGNESS)
THOMAS BAUER & POP (XENESTHIS)


... plus weitere Gäste von DIVIDED WE DROWN, STEELBORN und anderen Bands!

Texte_ Weihnachten 2011

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Weihnachtsfreuden in Musik und Wort


Alle Jahre wieder, zur "stillen Zeit" des Shopping-Irrsinns, stellt der EVOLVER-Klassikexperte musikalische und literarische Kostbarkeiten vor, die wohl niemand als Verlegenheitsgeschenk ansehen wird. Die vorgeschlagenen Präsente sind in jeder Hinsicht Kostbarkeiten - und das trotz der mittlerweile spärlichen Anzahl wirklich charismatischer Künstler.

Beethoven: The Symphonies

ØØØØØ
Sämtliche Sinfonien 1-9

Rechtzeitig vor Weihnachten erschien eine der schönsten Gesamtaufnahmen der Beethoven-Symphonien. Unter der Leitung des Stardirigenten Riccardo Chailly spielt das Gewandhausorchester aus Leipzig. Das deutsche Traditionsorchester ist nicht nur eines der besten Deutschlands, sondern ganz Europas. In der wunderschönen Box bekommt man auf fünf CDs nicht nur alle neun Symphonien, sondern auch noch acht Ouvertüren des deutsch-österreichischen Komponisten. Und das in bester Qualität.

 

Gewandhausorchester/Riccardo Chailly

Gewandhaus-Chor, Gewandhaus-Kinderchor, MDR-Rundfunkchor

 

Solisten: Katerina Beranova, Lilli Paasikivi, Robert Dean Smith, Hanno Müller-Brachmann

 

Decca/Universal (D 2011)

Brahms: Klavierkonzert Nr. 1

ØØØØØ

Eine Traditionsstadt weiter, nämlich in Dresden, fand das Gipfeltreffen eines jüngeren und eines älteren Musiktitanen statt. Starpianist Maurizio Pollini und der übermäßig gehypete Christian Thielemann begegneten einander in der Semperoper und nahmen mit der Staatskapelle Brahms’ 1. Klavierkonzert in d-moll auf. Das Ergebnis kann sich hören lassen. Obwohl Thielemann viel eher den romantischen Klang als klare Strukturen bevorzugt, schufen Pianist, Orchester und Dirigent hier ein Sammlerstück. Bernstein und Szell sind bei diesem Klavierkonzert nach wie vor die persönlichen Dirigenten-Favoriten des Autors dieser Zeilen; Pollini/Thielemann kriegen dennoch einen Ehrenplatz im CD-Regal.

 

Staatskapelle Dresden/Christian Thielemann

 

Klavier: Maurizio Pollini

 

Deutsche Grammophon/Universal (D 2011)

Bryn Terfel: Carols & Christmas Songs

ØØØØØ

Weihnachtsflair bringt Bryn Terfel mit der schon im vergangenen Jahr erschienenen Scheibe namens "Carols & Christmas Songs“. Was der walisische Charakterbariton hier an Ausdruck und Gefühl verströmt, macht ihm so bald niemand nach. Und mit Rolando Villazon und Catrin Finch hat Terfel bei einigen Liedern sehr kompetente Partner. Noch dazu bekommt man eine Bonus-CD mit Liedern auf Walisisch mitgeliefert.

 

Deutsche Grammophon/Universal (D 2010)

Christmas with Los Romeros

ØØØØØ

Weit entfernt vom Weihnachtskitsch feiert die spanische Gitarrenfamilie Los Romeros mit ihren Instrumenten. Mit einem Streichorchester bringen uns die Saitenvirtuosen traditionelle Weihnachtslieder auf schönste Weise zu Gehör.

 

Deutsche Grammophon/Universal (D 2011)

Tori Amos: Night of Hunters

ØØØØØ

Zwischen Klassik und Pop bewegt sich die amerikanische Songwriterin und Sängerin Tori Amos. Mit ihrer neuen Produktion "Night of Hunters" bearbeitete die 48jährige Exzentrikerin klassische Stücke von Bach, Satie, Schumann usw. und schloß ihr spezielles musikalisches Gewand um die Stücke. Toll, wie beispielsweise das berühmte B-moll-Nocturne op. 9 Nr. 1 von Frederic Chopin klingen kann, wenn die Pop-Künstlerin es in Worte hüllt.

 

Deutsche Grammophon/Universal (D 2011)

The Who: Quadrophenia

ØØØØØ

Pop & Rock, Nr. 1: Die Universal brachte unter dem Titel "Quadrophenia" eine nach der zweiten Rockoper der Band The Who benannte Superbox auf den Markt. Hier findet sich alles, was echte Fans der Gruppe haben wollen. Und wer wirklich noch nichts von den britischen Herrschaften kennt, wird merken, daß sie weit mehr zu bieten haben als die Signations der beiden CSI-Serien "Las Vegas" und "Miami".

 

Universal (D 2011)

Queen: Live at Wembley

ØØØØØ
Limited Edition

Pop & Rock, Nr. 2: Ein besonderes Gustostückerl ist diese Luxusausgabe mit dem legendären Freddie Mercury und der Gruppe Queen. Mit dem Live-Mitschnitt des berühmten Wembley-Konzertes 1986 wird klar, daß es für den Sänger niemals einen Nachfolger geben wird. Am 24. 11. 2011 wäre übrigens sein 20. Todestag gewesen ...

 

2 DVDs + 2 CDs

 

Universal (D 2011)

Monika Mertl: Nikolaus Harnoncourt

ØØØØØ
Vom Denken des Herzens

Die sehr umtriebige Monika Mertl hat wieder ein Buch über Nikolaus Harnoncourt verfaßt. Eigentlich ist es ja verwunderlich, wie dem nicht mehr so jungen musikalischen Genie immer wieder großartige Wortspenden entlockt werden. Doch wer Harnoncourt kennt, dem wird sicher vieles bekannt vorkommen. Und wem das noch alles zu akademisch ist, der kann auf die schönen essayhaften Bücher von Sabine M. Gruber zurückgreifen. Die sympathische Schriftstellerin hatte schon oft Gelegenheit, mit dem Meisterdirigenten zu plaudern, und schrieb mit diesen Erkenntnissen wunderschöne Bücher.

 

Residenz Verlag (Ö 2011)

Wolfgang Teuschl: Da Jesus & seine Hawara

ØØØØØ
Das neue Testament im Wiener Dialekt

Von einem ganz anderen Kaliber ist die Neuauflage von Wolfgang Teuschls "Da Jesus und seine Hawara" des Residenz-Verlags. Die recht freie Übersetzung von Ausschnitten des Alten Testaments in den Wiener Dialekt sorgt immer für Lacherfolge. Das Hörbuch von Willi Resitarits vulgo "Kurt Ostbahn" wird dafür sorgen, daß bei manchen der Weihnachtsabend nicht so ernst verlaufen wird (obwohl er bei weitem nicht an Kurt Sowinetz heranreicht, der das total Wienerische im Blut hatte, das Resetarits nie haben wird).

 

Residenz Verlag (Ö 2011)

Texte_ Peter Stöger

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Das Monokel des Polyphem - Notizen (29)


Sein literarisches Opus magnum blieb unvollendet. Der EVOLVER präsentiert nun die betreffenden Studien des 1997 verstorbenen Künstlers. Seien Sie gewarnt: Eine Sprache, die "herrschende Textgewohnheiten ignoriert und unter Verwendung pseudoklassischer Formen individuelle, skurrile und anarchische Inhalte" vermittelt, ist nicht jedermanns Sache.
Halten Sie Ihren Homer griffbereit und "den Sphinkter im Zaum"!

In den Jahren 1982 bis 1987 veröffentlichte Peter Stöger sechs schmale Bände mit Vorarbeiten zum "Monokel des Polyphem"; eine ausführliche Introduktion zum Thema finden Sie hier.

Wir bringen dieses brillante Textkonvolut, exklusiv und erstmals im Internet, als fortgesetzte Serie in lesefreundlichen Abschnitten - und zwar als Faksimile, da Typographie (und stellenweise Graphik) eine seitens des Autors gewählte Einheit bilden. Im Anschluß finden Sie jeweils nähere Erläuterungen.

 

[ << zur vorigen Folge ]

 

 

 

 

Daß Exegese eine heikle Sache ist, haben wir bereits in der ersten Folge erörtert.

Immerhin lassen sich hier und heute Stellen, die man nicht versteht, umstandslos nachschlagen.

Erläuterungen des Verfassers selbst - aus der Kommunikation mit seiner Gefährtin tradiert - finden sich fast nur zum ersten Band (hier: Folge 1 bis Folge 15). Es zahlt sich aus, dort nachzulesen, um einen Einblick in die Arbeitsweise des Künstlers zu bekommen.

 

Nächste Woche geht es hier weiter, mit dem dritten Band. Für heute verabschieden wir uns wie immer mit den Worten des Autors:
"Ja, die Grausbirnen werden ihnen aufsteigen - ich hoff's - und es g'schieht ihnen recht."


Peter Stöger

1939 - 1997

Peter Stöger: das monokel des polyphem - notizen


Band 2

Vergriffen.
Im Sammelband herausgegeben bei:
Österreichischer Kunst- und Kulturverlag (Ö 2007)
ISBN 9783854372974

Peter Stöger: peregrinus - eine introduktion


Hrsg.: Helga Schicktanz

Österreichischer Kunst- und Kulturverlag (Ö 1998)

Video_ Der Mandant

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Der Auto-Advokat


Mobil erreichbar sein - das hat sich Mickey Haller, Romanfigur von Michael Connelly, scheinbar auf die Plakette geschrieben. Immerhin operiert der Rechtsverdreher aus einem Lincoln Towns Car heraus in den Straßen von Los Angeles. Matthew McConaughey erweckte die Figur in diesem Jahr zum Leben, was zwar wenig spannend, aber dennoch unterhaltsam ausfiel.

Schon Konfuzius sagte, daß der Weg das Ziel sei. Und wer will nach einem Jahrhundert Kino noch erwarten, wirklich überrascht zu werden? Auch ein M. Night Shyamalan lockt mit seinen zum Markenzeichen verkommenen Überraschungsenden niemanden mehr hinterm Ofen hervor. Weshalb sich die Beteiligten von "Der Mandant" wohl dachten: Warum versuchen, was nur Scheitern kann?

Der Film - er heißt wie ein Werk von John Grisham, die Buchvorlage stammt aber von Michael Connelly - kommt mit wenig Überraschungen daher. Zwar dreht sich auch hier alles um Anwälte, Mord und Intrigen, ganz so konservativ wie ein Grisham-Werk ist "Der Mandant" dann aber nicht. So gelang Regisseur Brad Furman ein Film ohne Höhe-, allerdings auch ohne Tiefpunkte.

 

Charmeur und Ex-"Sexiest Man Alive" Matthew McConaughey spielt den Winkeladvokaten Mickey Haller, der vom Rücksitz seines Lincoln Towns Car heraus operiert und von Prostituierten mit Kokainsucht bis zu drogenanbauenden Rockern quasi jeden vertritt, der mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Was in einer Stadt wie Los Angeles nicht gerade wenige sein dürften.

Vielleicht hat er sich gerade deswegen den Leitspruch seines Vaters, ebenfalls Anwalt, eingeprägt, daß kein Mandant so gefährlich sei wie ein unschuldiger Mandant. Denn boxt man diesen nicht raus, plagt einen das schlechte Gewissen. An einen Solchen scheint Haller zu Beginn des Filmes zu geraten, als der wohlhabende Louis Roulet (Ryan Phillippe) ihn anheuert.

 

Er soll eine Prostituierte zusammengeschlagen haben und muß sich nun vor Gericht verantworten. Haller übernimmt den Fall im Glauben, Roulet sei unschuldig. Doch relativ bald stellen sich Widersprüche ein, und es werden Parallelen zu einem alten Klienten aufgedeckt. Ein paar Jahre zuvor hatte Haller Jesus Martinez (Michael Peña) vertreten, der eine Prostituierte ermordet haben sollte und durch Hallers Zutun der Todesstrafe entging.

Für den Anwalt sind die nahezu identischen Fälle kein Zufall und die Schuldfrage von Roulet fortan bewiesen. Doch kaum ist der Playboy auf Kaution freigelassen, stellt er für Haller fortan eine eminente Gefahr dar, die das Leben seiner Tochter sowie deren Mutter Maggie (Marisa Tomei), zugleich Staatsanwältin, bedroht.

 

Folglich geht es in "Der Mandant" weniger darum, die Schuldfrage wie in Filmen à la "Zwielicht" bis ins Finale hinein offenzuhalten. Vielmehr wird der von Phillippe sehr überzeugend gespielte Roulet bereits im ersten Akt als Täter etabliert. Auf ein Twist-Ende verzichtet der Film also, stattdessen muß Haller schauen, wie er diese Suppe wieder auslöffelt.

Hierbei gilt es, an Roulet vorbeizuarbeiten, keinen Verdacht auf sich zu lenken und gleichzeitig seine Zulassung nicht zu gefährden. Ein gewagtes Spiel, bei dem nach anfänglichem Verbrennen der Finger hauptsächlich geschicktes Taktieren im Mittelpunkt steht. Wie schützt Haller sich selbst und seine Familie, führt Roulet seiner gerechten Strafe zu und befreit Martinez aus seiner Haft?

 

Unterstützt wird McConaughy dabei von einigen namhaften Kollegen. Neben Tomei gibt auch Josh Lucas einen Ankläger der Staatsanwaltschaft, hinzu kommt William H. Macy als Hallers Ermittler und guter Freund. Serien-Darsteller wie Kat Moenning ("The L Word") und Emmy-Gewinner Bryan Cranston ("Breaking Bad") tauchen in eher unwichtigen und daher wenig präsenten Nebenrollen auf.

Nicht besonders politisch korrekt zeigt sich die Figurenbesetzung: Der einzige Afroamerikaner ist Hallers Chauffeur, und auch Latino-Charaktere tauchen eher negativ klischeebehaftet auf.

 

Abgesehen von seinen Stereotypen ist "Der Mandant" jedoch ein solider Mix aus Gerichtsdrama und Thriller geworden, wenngleich man seinen Verlauf nach einer halben Stunde punktgenau vorhersagen kann.

Das trübt zwar nicht wirklich den Unterhaltungswert, nimmt der Story aber einiges an Spannung. Der Film ist letztlich zu gut, um schlecht zu sein, und zu schlecht, um als gut zu gelten. Dennoch schien das moderate Kino-Einspielergebnis den Produzenten soweit zugesagt zu haben, daß aus "Der Mandant" nun eine TV-Serie wird.

 

Technisch fällt die Blu-Ray des Films exzellent aus. Das Bild fängt das lebensfrohe kalifornische Naturell in feschen Farben ein und präsentiert sich in scharfem High Definition. Auch der Ton ist nahezu durchweg klar und räumlich. Die Extras warten mit einem Making Of auf (in dem die Beteiligten einander Honig ums Maul schmieren), sowie mit zwei nicht weniger selbstüberzeugten Featurettes. Die nicht verwendeten Szenen waren in der Tat verzichtenswert. Ingesamt hinterläßt die Blu-Ray somit technisch einen sehr überzeugenden Eindruck, dem die Extras nicht gerecht werden.

Der Mandant

ØØØ
The Lincoln Lawyer

Produktion: USA 2010

Videovertrieb: Universum Film GmbH

 

Blu-Ray Region B

 

118 Min. + Zusatzmaterial, dt. Fassung oder engl. OF (DTS-HD 5.1)

Features: Making Of, Featurettes, entfernte Szenen

 

Regie: Brad Furman

Darsteller: Matthew McConaughey, Ryan Phillippe, Marisa Tomei u.a.

Literatur_ Lee Child - Outlaw

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Den Spiegel vorgehalten


Getrieben von Hoffnung und Verzweiflung muß Reacher, der coolste Held aller Zeiten, in seinem neuen Abenteuer erkennen: Häufig ist das Übel hausgemacht.

In seinem zwölften Abenteuer, das ins Deutsche übersetzt worden ist (im amerikanischen Original erschien jüngst mit "The Affair" der bereits 16. Roman), durchstreift Reacher die USA von Ost nach West. Von New York nach San Diego. Quasi in der Mitte Amerikas, in Colorado, findet er Hoffnung und Verzweiflung – zwei Städte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

 

Auf der einen Seite das kleine Wüstenkaff Hope. Hoffnung eben. Die Leute sind nett, ihre Häuser schön, die Straßen gepflegt. Hier lebt das gutsituierte, optimistische, das normale Amerika, dessen Leben sich ohne Zweifel angenehm gestaltet. Doch für Reacher noch lange kein Grund, seßhaft zu werden. Er marschiert also weiter und erreicht schon nach wenigen Meilen das ebenso winzige Wüstennest Dispair.

Verzweiflung. Hier sind die Straßen heruntergekommen, die Häuser marode, die Leute abweisend. Hier hat es sich die Unterschicht bequemgemacht – oder das, was sie für bequem hält. Als Reacher sich in dem einzigen Restaurant einen Kaffee genehmigen möchte, gibt man ihm zu verstehen, schnellstmöglich zu verschwinden.

Doch erstens läßt sich Reacher nichts sagen. Es kommt zum Handgemenge, bei dem er einen Deputy krankenhausreif prügelt. Folgerichtig findet er sich vor dem Richter wieder. Dieser verweist ihn des Ortes und läßt ihn von den Cops zurück an die Stadtgrenze bringen – zurück nach Hope.

Zweitens haßt Reacher es, umzukehren. Und drittens: Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte man ihn ins Gefängnis gesperrt. Stattdessen wollte man ihn so schnell wie möglich aus dem Ort entfernt wissen. Was ist los in Dispair?

Schon bald muß Reacher erkennen: Manchmal ist das Übel, das das Wohlergehen eines Landes bedroht, hausgemacht.

 

"Outlaw" mag sich auf den ersten Blick wie ein lässiger, mit flotter Hand erzählter Thriller lesen lassen, mit den üblichen markigen Reacher-Sprüchen, viel harter Action und etwas Erotik garniert. Zwischen den Zeilen ist es aber auch ein politischer Roman, der Einblick gewährt in den Zustand eines tief gespaltenen Landes.

Hope und Dispair, die beiden Kleinstädte im Herzen Amerikas, stehen symbolisch für den Zustand der USA: gefangen irgendwo zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Mittendrin steckt Reacher, der wohl coolste Held aller Zeiten, der das Feuer löscht, doch nach getaner Arbeit, wie immer ganz Lonesome-Cowboy-like, in die Hitze der Nacht verschwindet. Um den Neuaufbau müssen sich andere kümmern.

Lee Child: Outlaw

ØØØØ
Nothing To Lose

Blanvalet (D 2011)

Kino_ Paranormal Activity 3

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Fliegende Küchenmöbel


Ein Haus, eine Familie, eine Handkamera - weniger Budget kann ein Film gar nicht haben. Mehr Spannung auch nicht: Der dritte Teil der Dämonensaga überzeugt erneut mit perfiden Schockeffekten, die ganz und gar nicht billig daherkommen.

Die Geschwister Katie und Kristie werden von einem Dämon verfolgt. Der begnügt sich nicht damit, an ein Haus gebunden zu sein, sondern spukt immer dort, wo die jungen Frauen wohnen. Umziehen hilft nichts, aber vielleicht Ursachenforschung - alte Heimvideos sollen Aufschluß geben, was sich in der Kindheit der Mädchen abgespielt hat.

 

Schnell wird klar, daß der Dämon nicht von ungefähr kommt, sondern vom Elternhaus. Dort hat 1988 der Stiefvater Dennis Kameras installiert, um das nächtliche Geschehen aufzuzeichnen. Und das hat es in sich - vom zarten Klopfen bis hin zur Stufe 6 auf der Richterskala macht die Familie alles mit. Leider ist das erst der Anfang, die Attacken werden aggressiver, die Verletzungen deutlicher.

Und während Dennis noch fasziniert das Material sichtet und Mutter Julie die Augen fest zumacht, fliegen im Kinderzimmer bereits die Betten. Als dann noch die Kücheneinrichtung von der Decke kracht, wird auch Julie klar, daß im Haus irgendetwas nicht stimmen kann. Zu spät.

 

Nach den ersten beiden Teilen weiß der Zuseher, was ihn erwartet: zunächst einmal gar nichts. Die Schockmomente beschränken sich auf die Schauspieler selbst, die unerwartet vor die Kamera hüpfen und sich gegenseitig erschrecken. Der Dämon hält sich lange Zeit bedeckt, beschränkt sich auf Lichtschalter, knarrende Türen, ein wenig Poltern und überläßt den Protagonisten seine Arbeit.

Erst nach und nach wird in "Paranormal Activity 3" aufgedreht, ohne jedoch den Ansatz der ersten Teile aus den Augen zu verlieren: Die eigene Phantasie ist immer noch der grausamste Wegbegleiter. Und bis zum Grande Finale sehen selbst abgebrühte Pragmatiker finstere Dinge in jeder finsteren Ecke, immer schön nach dem Motto "Man muß nichts sehen, um etwas zu sehen".

In den letzten fünf Minuten helfen im Kino dann nur noch Ohropax. Das Kreischen wird lauter, die Flüche werden deutlicher, das Lachen klingt deutlich unsicherer, und einige Zuschauer platzen heraus: "Da! Schau! Was ist das?" Wer an dieser Stelle mit "Wo denn?" antwortet, hat den Film nicht verstanden.

 

2007 ist Regisseur Oren Peli mit "Paranormal Activity" ein kleines Meisterwerk gelungen, das ihm niemand zugetraut hätte. Schon wieder "Blair Witch Project" meets whatsoever? Schon wieder Handkamera, die bei der Hälfte der Zuseher nur Übelkeit auslöst? Trotzdem hat Peli es geschafft, aus 15.000 Dollar 193 Millionen zu machen - da können sich die Börsenmakler noch was abschauen.

Tatsache ist halt, daß die einfachsten Ideen oft die besten sind. Und was bei der Hexe von Blair schon im Wald funktioniert hat, funktioniert erst recht in einem Einfamilienhaus.

 

Die Regisseure Henry Joost und Ariel Schulman halten die Fahnen des Gründungsvaters hoch und erweitern die Handkamera um eine weitere Facette, nämlich den Schwenk auf einen Ventilator. Diese wundervolle Spielerei wirkt zwar in der Handlung ein wenig aufgesetzt, erhöht aber die Spannung drastisch. Die Kamera ist nie dort, wo der Zuseher sie haben möchte, und offenbart den Schockeffekt erst im letzten Moment.

Leider bleibt es bei dem Aufhübscher, denn auch im dritten Teil ist die Handkamera oft nicht schlüssig. Wenn zum Beispiel Julie paranormal auf Dennis zuschwebt, wird der Hochzeitsfilmer plötzlich zum Kriegsreporter und hält immer weiter drauf. Auch in den stillen, privaten Momenten ist oft nicht klar, warum Dennis nicht endlich die Kamera abschultert und mit seiner Frau redet.

 

Kleine Logikschnitzer verzeiht man dem Film aber schnell; zu sehr ist man beschäftigt, seine eigene Phantasie zu zügeln und Urängste im Kastel zu lassen. Das gelingt nur bedingt, da sich alle Teile des Schockers intensiv mit der Frage beschäftigen, was eigentlich passiert, während wir schlafen und schutzlos ausgeliefert sind.

Nach diesem Film hat jeder Angst, es herauszufinden, dann kommt Oren Peli und macht es schlimmer: "Wenn etwas in deinem Zuhause herumschleicht, dann gibt es nicht viel, was man tun kann." Kameras aufstellen hilft kaum, soviel haben wir gelernt.

Ein wenig mehr Eigeninitiative hätte den Figuren vielleicht gutgetan - so viel Fatalismus wie hier gab’s im zweiten Teil noch nicht.

 

Fazit: Für Geister wird es heutzutage immer schwieriger - es gibt garantiert einen, der sie filmt. Privatsphäre? Nix. Die totale Überwachung bringt aber auch im dritten Teil wenig. Der Dämon ist zwar kamerascheu, seine schwarzen Künste sind es aber nicht. Und die werden vorbildlich demonstriert, zuerst an Leintüchern und schließlich am lebenden Objekt.

Im Dunklen bleiben letztlich nicht nur große Teile des Films, sondern auch die Handlung. Viel wird angerissen, nichts wirklich erklärt, die wahren Hintergründe des Spuks bleiben weiterhin offen. Teil 4? Ja, bitte.

 

 

        

 

Paranormal Activity 3

ØØØØ

USA 2011
84 Min.

Regie: Henry Joost, Ariel Schulman
Darsteller: Chloe Csengery, Jessica Tyler Brown, Christopher Nicholas Smith u. a.


Kolumnen_ Kolumnen, die die Welt nicht braucht #34

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Zombie-Frohsinn für einen Teller warme Suppe


Die Menschen lieben Rituale. Anders ist nicht zu erklären, warum wir uns alljährlich mit den anderen Lohnsklaven in schäbige Wirtschaften begeben und dort grausliche Menüs zu uns nehmen. Bericht von einer Weihnachtsfeier.

Ihr geliebter Kolumnenautor hat lange darüber gerätselt, warum Weihnachtsfeiern so beliebt sind. Inzwischen weiß ich es: sie verschaffen allen die Gelegenheit, sich früher vom Arbeitsplatz zu entfernen.

"Fährst du mit uns?"

"Nein, ich komme öffentlich, ich muß mich noch frischmachen."

Meine Ausrede war natürlich völlig unglaubwürdig, denn ich bin ja einer der Deodorantverweigerer, die unsere Untergrundbahnen klimatisch und aromatisch so problematisch machen. Und doch bot mir dieser kleine Schwindel die beste Gelegenheit, mich in die Einkaufserlebniswelten der Innenstadt zu stürzen, um auf Kredit meinen quengelnden Nachwuchs mit all dem Unterhaltungselektronikramsch zu beglücken, den er sich gewünscht hatte.

Drei Minuten nach den Nikolausgeschenken.

Stilvoll per McDagoberts-Wunschzettel-eCard.

Mein Rat: Machen Sie es wie ich und vergessen Sie beim Schenken tunlichst ein wichtiges Zubehör, zum Beispiel Netzteil oder Controller. Andernfalls leiden Sie bis Neujahr unter der Melodie von Super Mario. (Kennen Sie nicht? Warten Sie’s ab, bald kennen Sie nichts anderes mehr.)

 

Weihnachtsfeiern empfand ich stets als angeordnete Betriebsversammlung mit angeordnetem Essen und angeordneter Feierlaune. Ergo ist es keine Kommunion, keine Hochzeit und auch kein Begräbnis. Daher zog ich wie stets ein Hawaii-Hemd an. Ein solches Kleidungsstück sorgt nicht nur bei mir für gute Laune, sondern auch bei allen, die mich sehen. Ich sparte auch nicht mit Gel, denn eine säuberlich querbelegte Halbglatze ist besser als gar kein Haar. Leider kam ich nach Weihnachtsshopping und Schneeschipping wieder einmal zu spät. Aber ich sah es positiv: Alle bekamen meinen Auftritt mit, nicht zuletzt dank buntem Hemd. Außerdem mußte ich mich nicht mehr entscheiden, wo ich Platz nehmen wollte - mein Favorit wäre ohnehin nirgends gewesen, oder jedenfalls nicht hier, sondern lieber in meinem Fernsehsessel. Stattdessen konnte ich den letzten verbliebenen Stuhl verwenden. Keiner fühlte sich bedrängt, weil ich mich zu ihm setzte. Niemand fühlte sich vernachlässigt, weil ich mich nicht zu ihm gesetzt hatte. Ein Win-win-Szenario.

Das ist übrigens auch die Strategie, die ich zuletzt auf einem Manager-Seminar hörte: Einfach so lange warten, bis die Entscheidung sich von selbst getroffen hat. Das Universum findet immer einen Weg. Om.

Und ich hatte ohnehin nichts versäumt. Nur die zähen Vorträge von Geschäftsführern, Vorstandsvorständen, Bereichs- und Fachabteilungsleitern, Gruppen- und Teamleitern sowie anderen Verzweifelten auf Karriereleitern.

 

Die führten mir wieder einmal Peter-Prinzip und Dunning-Kruger-Effekt vor Augen. Der Dunning-Kruger-Effekt geht so: Angenommen, wir sind zu dritt und müssen irgendwie was Tolles erfinden, um die Welt zu retten. Meine zwei Kollegen haben die besten Ideen, weil sie nämlich Genies sind. Bloß ich, ich bin im Vergleich dazu ein Depp. Mangels Intelligenz weiß ich das aber nicht. Daher quatsche ich meinen Kollegen ständig drein, denn ich habe das Gefühl, daß die Burschen auf dem Holzweg sind. Das Tragische am Dunning-Kruger-Effekt ist, daß man wirklich aufrichtig glaubt, daß die anderen alles falsch machen. Weil man eben selbst ein Depp ist.

Das Peter-Prinzip, das geht so: Sie sind einer von zehn Mitarbeitern und können weniger als die anderen. Man befördert Sie deswegen, damit Sie weniger Schaden anrichten. Danach sind Sie der Chef der neun anderen, einer von zehn Unterchefs, und weil Sie auch als solcher nicht gerade glänzen, macht man Sie zum Oberchef, und so weiter. Infolgedessen werden stets die Depperten an die Spitze befördert.

Ist aber natürlich nur eine Theorie.

 

Wie kam ich da jetzt drauf? Ach ja, die Reden der Vorstände, Geschäftsführer, Vorstandsvorstände, Bereichs- und Fachabteilungsleiter, Gruppen- und Teamleiter. Sie glichen den Reden vom letzten Jahr. Wieder sprach man vom dunklen Tal der Tränen, das noch nicht durchschritten sei (Psalm 84), und doch gebe es Licht am Ende des Tunnels - und es handle sich dabei nicht um ein Reflektorschild mit der Aufschrift "Sackgasse". Doch wo Licht sei, da sei eben auch Schatten, daher müßten jetzt alle Mitarbeiter der unteren Ebene zusammenhalten, Ihren Gürtel aus Gründen der Solidarität enger schnallen, und so weiter, Bescheidenheit sei nicht nur eine Zier, sondern die rettende Hand am Ufer der Stromschnellen.

(Die letzte rettende Hand, an die ich mich erinnern kann, war da beim Lavafluß die Hand des dunklen Imperators, der sie dem halbierten Darth Vader reichte.)

COBs, CEOs, CMOs und CSOs brachten eine Wiederholung der "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede vom letzten Jahr und zündeten Nebelkerzen für mehr proaktives Engagement, konstruktive Offenheit und grenzübergreifende Denkkultur, wobei die Stalinorgeln ihrer Münder im Sekundentakt Buzzword-Raketen mit Sprengladungen wie "Synergieeffekte", "Paradigmenwechsel" und "Commitment" verschossen, während wir Mitarbeiter, also die, die den eigentlichen Job machen, uns nur fragten, wann es endlich etwas zu essen gäbe. Doch diese Frage durften wir nicht stellen. Denn bei diesem Spiel geht es nur darum, uns das Gefühl zu geben, eine wertvolle humane Ressource zu sein. Dafür muß man dankbar sein. Und ich persönlich halte das für eine sehr redliche Maßnahme zur Ertragssteigerung. Ganz ähnlich wie die Mozartbeschallung in Mastschweinekoben.

Früher oder später kommt ja doch einer der CAOs, CFOs oder CTOs auf die dumme Idee, eine Bemerkung zu machen wie "Falls übrigens jemand eine Frage hat - zur Politik der nach oben offenen Tür gehört natürlich auch unsere Bereitschaft, nach unten zu treten - in den Dialog, meine ich".

 

Dies Bemerkung ließ mich wie üblich nicht kalt. Sie warf in meinem Gehirn Fragen auf:

1. Sollte ich Intelligenz vortäuschen? Zum Beispiel, indem ich den Schnabel hielt? Es war ja von ihnen eigentlich alles gesagt worden, was sie sagen wollten - jede weitere Frage wäre nur unbequem oder dumm gewesen. Dumme Fragen sind dumm, und unbequeme Fragen wurden sowieso noch nie beantwortet; sie zu stellen wäre daher ebenfalls dumm gewesen. Vorteil dieser Reaktion: wenig Aufwand, null Risiko.

2. Sollte ich Dummheit vortäuschen? Manche würden jetzt wohl hämen, das wäre etwas, was mir ja besonders leicht fiele. Ich müßte nur einige unsäglich dumme oder unbequeme Fragen stellen oder bei den Fragen anderer nachhaken, am besten zu einem Zeitpunkt, an dem ohnehin klar ist, daß die Obrigkeit nicht gewillt ist, auf diese Fragen zu antworten. Vorteil: Ich würde auffallen. Nachteil: Auffallen würde ich nur als dümmlicher Querulant.

 3. Ich entschied mich gemeinsam mit einigen anderen Kollegen für die dritte Methode: das positive Feedback. Wir fanden all das Gesagte lautstark extrem gut und wünschen allen was Nettes, plus Weltfrieden. Vorteil: Es gab kurz darauf endlich was zu essen.

Wurde auch Zeit, denn 22 Uhr ist keine Zeit für eine Vorspeise.  Zumal es sich um die übliche dünne Suppe handelte, die zu heiß serviert wurde, eine Taktik, dank der man sich die Zunge verbrennen soll, um kein Geschmacksempfinden mehr zu haben, das zu Beschwerden über den Hauptgang führen könnte. Ich wurde trotzdem Erster und leckte den Teller ab, um allen zu zeigen, daß ich in Sachen Engagement und Gründlichkeit jederzeit mein proaktives Wirkpotential entfalten könnte, wenn man mir nur endlich eine Chance gab.

 

Es verging nun einige Zeit, wohl weil im gebuchten Restaurant einfach niemand damit gerechnet hatte, daß wir um 22.30 Uhr schon Interesse an Ente/Lamm/Gans/Hirsch oder Hase haben könnten. (Rind oder Schwein werden nicht mehr gereicht, das könnte ja religiös problematisch sein.) (Auf einer Weihnachtsfeier!) (Also wirklich, wenn man bedenkt, daß viele Religionen einst als Sekten angefangen haben, und sich dann vor Augen hält, wie viele Sekten wir derzeit haben, dann muß man befürchten, daß wir in 2000 Jahren gar nichts mehr essen dürfen. - Weihnachtsfeiern gäbe es natürlich trotzdem ... )

Die Wartezeit überbrückte ich mit Drinks, dem Zerklopfen der Walnüsse (vom letzten Jahr) auf dem Tisch, einem zweiten Drink, dazu einem Stück von dem sprichwörtlich "hartem Brot", das in Körben den Tisch dekorierte, sowie weiteren Drinks. In vino veritas, im Bier ist auch etwas. Ich möchte daran erinnern, daß ich ja aufgefordert worden war, positiv zu denken, und mit einer gewissen Schwebung im Kopfe sieht man die Dinge nicht mehr so nüchtern wie vorher.

Dann kam endlich die Hauptspeise. Ich nutzte die Gelegenheit für ein paar hämische Bemerkungen über die Potenz von Nichtbiertrinkern und die beschränkte Orgasmusfähigkeit von Vegetarierinnen und speziell Veganerinnen, was innerhalb meiner Peergroup auch mit Gelächter belohnt wurde.

Einigen jungen Mitarbeitern, die sichtlich direkt nach dem Essen schon abhauen wollten, riet ich mit der schweren Tiefe eines Papstes, der die Quantenelektrodynamik ins Dogma aufnehmen will, daß es dafür noch zu früh sei. Eine Zeitlang sollten sie ihre Gesichter schon noch in den Wind halten, wenn ihnen ihr Job lieb sei.

Diese Kids! Die sitzen doch sowieso die ganze Zeit vor ihrem Phone, das smarter ist als sie, und schieben mit dem Daumen virtuelle Dinge von links nach rechts und zurück.

 

Bedenken Sie bei Ihrer eigenen Weihnachtsfeier, daß es sich in Wirklichkeit um verkappte Assessment-Center handelt. Bei solchen Gelegenheiten prüft das Management also sehr genau, wer das Zeug zum Alphatier hat und wer zu den Opfern gehört. Ich persönlich nutze daher jede Gelegenheit, mich in die Nähe des Managements zu begeben. Dort devot andocken - das bringt erfahrungsgemäß Punkte. Mein Rat: Vergessen Sie nicht, sich über unfähige Kollegen das Maul zu zerreißen, eigene Verdienste hingegen als standortsichernd herauszustellen. Bestätigen Sie noch einmal, wie klug die soeben von der Geschäftsleitung aufgewärmt vorgetragenen Ideen sind. Vermeiden Sie dabei Fallen wie "aber" und "jedoch", denn Ihr Power-Wording (guter Vorsatz fürs kommende Jahr!) kennt keine negativen Begriffe. Und hauen Sie heimlich noch vor der Nachspeise ab, bevor Sie sich quer über den Tisch des Generalstabs übergeben müssen.

 

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Das Bilderrätsel:

"Nennen Sie mich Spießer, aber: Wer verschenkt sowas?"

Texte_ Vorweihnacht

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Engel


Man ist es nicht, aber man kann es werden. Wenn die Flügel sich ihren Weg bahnen, dann wird es auch manchmal schmerzhaft.
Eine Kurzgeschichte von Guido Rohm

Mama schwebte.

Jetzt ist sie ist ein Engel. Im Himmel gibt es keine Grenzen. Nirgendwo kann man sich stoßen, man eckt nicht an.

Sie ist nun nicht mehr hier. Sie hat mich verlassen. Das ist nicht weiter schlimm, denn sie mußte es tun, weil es ihre Bestimmung war.

Das Schicksal diskutiert nicht mit uns. Es führt unaufhörlich Selbstgespräche.

Engel tönen vom Himmel hinab, nicht aber von der Erde ins Weltall hinauf.

Sie ist geflogen. Ihre Flügel trugen sie weit. Hinauf in den Himmel, unter eine Kuppel aus Sternen.

Sie hat ihre Flügel gebreitet, umschwärmt von zahllosen Sperlingen. Ihre Fußspitzen wiesen zur Erde hinab.

Ich habe es gesehen. Ich war dabei.

Ich kann Zeugnis davon ablegen.

 

Das alles habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Augen trügen nicht. Augen sind die Schlupflöcher der Wahrheit. Augen sind Baggerschaufeln. Sind Hände. Sie fassen die Welt. Zerren sie in den Kopf hinein.

Vom Kopf wandert die Welt in die Seele. Sie wandert nicht. Viel eher fällt sie. Sie stürzt sich in die Tiefe der Seele. Dort breitet sie sich aus. Bereitet Schmerzen, weil die Seele nicht dazu gemacht ist, so viel Welt aufzunehmen.

 

Die Seele erinnert an eine Seifenblase. Sie muß platzen, bersten, bei all den Eindrücken, all den Gesichtern, den Turmspitzen, den Flugzeugen, den Autos. Die Seele ist nicht für die Welt gemacht. Nicht für eine Welt in dieser Größenordnung. 

Und deshalb müssen wir Engel werden. Denn dann können wir unsere Flügel breiten und den Erdboden kleiner und kleiner werden lassen.

 

Engel wohnen im Himmel. Sie sitzen auf Wolken. Blicken auf die Welt hinab, die ihren Seelen nun nichts mehr anhaben kann. Die Welt ist auf eine Größe geschrumpft, die nun in eine Seele hineinpaßt. Endlich kann die Seele die Welt aufnehmen.

 

Ich habe eine Veränderung an meinem Rücken verspürt. Ein Ziehen. Ein Schmerz, der sich in den Nächten in den gesamten Körper ergießt. Der Schmerz gleicht einer Flutwelle, die mich unter sich begräbt. Ich muß diese Schmerzen ertragen. Sie sind ein Bote. Ein Vorzeichen. Sie bereiten mich auf mich vor. Ich werde zu einem Engel, so wie Mutter zu einem Engel wurde. Sie hat es mir gesagt. Sie hat mich darauf vorbereitet. Dies alles kommt nicht überraschend.

 

Bei Mutter kündigte sich die Engelwerdung ebenso an.

Damals wußte sie noch nichts von ihrem Glück. Vater und Mutter gingen von Arzt zu Arzt, weil sie sich die Veränderungen nicht erklären konnten.

Vaters Gesicht wurde ernster. Er wollte nicht, daß sie ein Engel wurde. Oft stand er am Fenster und blickte in den Himmel hinauf. Er suchte ihn ab.

Er spürte, was kommen würde. Er verabschiedete sich bereits von ihr. Sah zu den Wolken hinauf. Überlegte, auf welcher Wolke Mutter wohl bald Platz nehmen würde.

 

Manchmal schien er zornig über ihren Entschluß zu sein. Er wollte sie nicht als Engel, er wollte sie als Frau. Die Frau aber verging unter seinen Blicken. Sie wandelte sich. Tag für Tag.

Das Wachsen der Flügel ließ sie schreien. Ich hörte es. Verkorkte meine Ohren mit den Zeigefingern, weil die Gesänge von Engeln nicht für Menschenohren bestimmt sind.

 

Geisterhaft winkte ihre Hand mich zu sich. Mein Ohr mußte Teil ihre Mundes werden. Mein Ohr versank in ihrem Atem. Mein Ohr tauchte in ihre Engelwelt ein.

Sie erklärte mir alles. Sie klärte mich auf. Mütter sprechen über die Veränderungen des Körpers. Irgendwann. Heute war mein Gespräch.

Sie müsse bald gehen, erklärte sie mir.

Wohin? frage ich.

Hinauf zu den Engeln, keuchte sie.

Das reichte mir, um mich lächeln zu lassen.

In der Trübe des Zimmers angelte mein Blick nach ihrem Gesicht. Ihr Antlitz wirkte zerfurcht. Als hätte ein Wind es aufgescheucht. Sie wirkte wie jemand, der sich auf der Flucht befindet.

Sie ist nicht auf der Flucht, dachte ich dann. Sie bereitet sich vor.

Ein letztes Mal wollte ich sie an Bord meiner Erinnerung ziehen. Ihr Gesicht sollte mein Fang sein, damit mir etwas blieb, wenn sie gegangen war.

Bald darauf flog sie davon.      

 

Als Mutter schließlich die Erde verließ, schloß sich Vater ein. Erst im Badezimmer. Dann in seinem Kopf. Die Tür zum Bad konnten sie öffnen, das Tor zu seinem Kopf blieb verschlossen. Er kroch in seinen eigenen Kopf hinein. Wie ein kleines Kind in seine Höhle aus Decken. Dort blieb er. Er verkapselte sich. Der Kopf wurde sein neues Zuhause.

 

So stellte ich mir seine Abwesenheit vor: Er saß auf einer Bank und sah in den Himmel hinauf. Von dieser Bank im Kopf konnte er sie sehen. Jedes Äderchen in Mutters Gesicht konnte er mit seinen Augen berühren. Sie lachte ihn an. Rief ihn zu sich.

Aber Vater folgte nicht, sondern blieb auf seiner Bank sitzen, bis sie ihn samt Bank in ein Pflegeheim verfrachteten. Er reagierte auf nichts. Er hatte keine Zeit. Auch nicht für mich. Er saß nur da und starrte zu Mama hinauf, die ihn selig anlächelte und in ihre Seele treten ließ.

 

Ich stehe vor mir. Ich konfrontiere mich mit meinem Selbst. Drehe meinen Rücken in Richtung des Spiegels, der mir meine Flügel nicht zeigen will.

Spiegel sind Lügner. Auf sie ist kein Verlaß. Sie zeigen uns nur die Zeit, nicht aber die Seele.

Mutter war es, die mich auf meine Rolle einschwor, die mir erklärte, Abend für Abend, ich sei ein Engel. Sie zog die Bettdecke unter mein Kinn, bis ich ganz Kopf mit Ohren war. Ich lauschte ihren Worten. Die Worte flogen wie kleine Vögel in meinen Kopf. Dort piepsten sie aufgeregt und versprachen mir eine schöne Zeit.

Die Vögel haben nicht gelogen. Sie fliegen voran. Ihnen werde ich folgen. Sperlinge. Ich glaube, daß es Sperlinge sind.

 

Mutter verließ die Dielenbretter des Dachbodens. Sie schwebte über dem knirschenden Holz. Ich sah es nur kurz. Dann zerrte Vater mich aus dem Abflugbereich.

Man muß hoch steigen, dann ist man dem Himmel schon ein wenig näher. Ich sah ihren Flug. Ihren Start.

Sie erinnerte an ein Flugzeug. Eher noch an eine Rakete. (Gar nicht unbedingt an einen Engel, höchstens einen sehr traurigen). Sie sah zu ihren Füßen hinab. Der Kopf lag schräg.

 

Fliegen muß doch anstrengend sein, dachte ich noch.

Vater zog mich die Treppe hinab. Ich sagte nichts. Ich war zu überrascht. Am Ende der Treppe aber lächelte ich.

Jetzt ist Mama ein Engel und fliegt in den Himmel hinauf, sagte ich.

Vater erwiderte nichts. Erwachsene können grausam sein. Er stürmte die Treppe nach oben. Betrat den Dachboden. Wohnte ihrer Himmelfahrt bei.

Das ist gemein, dachte ich. So gemein. Warum darf er es sehen?  

 

Die Schmerzen werden heftiger. Sie wandern über den Rücken. Sie diktieren meinen Tag, der mich im Bett liegend ertragen muß. Freunde habe ich nicht. Einen Arzt muß ich nicht aufsuchen, denn Ärzte verstehen nichts von Engeln. Sie wissen nichts von Seelen. Ich könnte einen Priester bestellen, aber was könnte er mir sagen, was ich nicht schon längst weiß.

Ich trage Flügel aus.

 

Ich werde in eine Wolke fallen. Wolken sind weich. Sie sind wie Betten. Der Wolkenbezug wirkt stets wie frisch gewaschen. Auf einer Wolke kann einem nichts geschehen. In Wolken kann man fallen. Man wird nicht stürzen. Die Wolken fangen uns Engel.

 

Mutter wird überrascht sein, wenn sie mich erblickt. Sie wird  meinen Namen ausrufen. Ich werde nicken. Werde lächeln, werde sagen, da bin ich, dein Engel.

Sie wird mich an die Hand nehmen und sagen, endlich, ich habe schon auf dich gewartet.

Wir werden zu Vater hinunter blicken, der, so hoffe ich, noch auf seiner Bank sitzt.

Wir werden all die kleinen Häuser und Autos, all die Miniaturausgaben der Städte in unsere Seelen strömen lassen.

Bald wird auch Vater folgen. Dann sind wir wieder vereint, eine echte Familie, nur glücklicher als all die Familien dort unten.

 

Der Schmerz übermannt mich. Er drückt mich wie ein Angreifer unter sich. Er schlägt mich. Wuchtet mir seine Faust in den Magen. Raubt mir die Luft zum Atmen. Der Schmerz will mich erlegen. Hier. Sofort. Als wäre ich ein wildes Tier. Engelgeburten lassen leiden.

Ich muß auf den Dachboden. Ich verkralle mich im Teppich. Ich werde es nicht schaffen. Ich will es. Will es doch so sehr.

 

Der Schmerz hat von mir abgelassen. Ist abgesprungen wie von einem fahrenden Zug.

Licht blendet mich. Ich suche in der Sonne nach einem Hinweis. Ruhe. Völlige Ruhe. Eine engelhafte Ruhe.

Und dann, ich kann es kaum glauben, spüre ich es. All mein Warten wird belohnt.

Ich stehe in einem Meer aus Licht. Ich breite meine Flügel. Wunderschöne große Flügel.

Eine Stimme tritt an mein Ohr. Die Stimme gehört nicht zu Mutter.

Wir haben sie, sagt die Stimme.

Ja, entgegne ich und schwebe langsam empor.

Guido Rohm

wurde 1970 in Fulda geboren, wo er heute auch lebt und arbeitet. Sein Debüt, der Kurzgeschichtenband "Keine Spuren" (mit einem Vorwort von Georges-Arthur Goldschmidt) kam 2009 heraus, ein Jahr später der Krimi "Blut ist ein Fluss". 2012 wird EVOLVER BOOKS sein neues Werk veröffentlichen.

 

Sein aktueller Roman "Blutschneise" ist heuer im Verlag Seeling erschienen:

Video_ Blue Valentine

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Liebe? Lieber nicht!


Ein junges Paar verliebt sich und heiratet überstürzt, als eine Schwangerschaft ins Haus steht. Einige Jahre später ist die Liebe dann weg. Eine Geschichte, die bereits Dutzende Male erzählt wurde - anscheinend jedoch nicht dem Regisseur Derek Cianfrance. Der schickte sich an, sie erneut zu verfilmen, was für das Publikum wenig Überraschungen bereithält.

Zu Beginn von "Blue Valentine" sucht ein kleines Mädchen auf einer sonnendurchfluteten Wiese nach ihrem Hund. Immer wieder ruft sie seinen Namen, doch der Hund kommt nicht. Der Hund ist weg. Wenn man so will, ist das eine Metapher auf den Film selbst. In diesem verlieren zwei Menschen jemanden, den sie in Herz geschlossen haben und der auch auf eindringliches Rufen nicht zu ihnen zurückkehrt.

Eine gescheiterte Beziehung also. "Moment", wird sich jetzt der bzw. die ein oder andere denken, "das kenn ich doch von irgendwoher." Und in der Tat handelt es sich hierbei um eine 0815-Geschichte, die in der Historie des Kinos schon tausendmal erzählt wurde. Und tausendmal ist dasselbe passiert. Was es umso erschreckender macht, wieviel Arbeit in "Blue Valentine" geflossen ist.

 

Unglaubliche 12 Jahre seines Lebens hat Regisseur Derek Cianfrance in seine 67 Drehbuchfassungen gesteckt, um seine Liebesgeschichte letztlich dann doch von den Darstellern über weite Strecken improvisieren zu lassen. In der Gegenwart lernen wir Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams) kennen, die Eltern des Mädchens vom Anfang. Beide sehen etwas fertig aus, und wie sich zeigt, sind sie es auch.

Immer wieder wirft der Film dann einen Blick in die Vergangenheit. Zeigt uns Dean als verspielten Romantiker, der in den Tag hinein lebt und stets ein Lächeln auf den Lippen trägt. Cindy hingegen präsentiert sich als spontanes Mädchen, dessen Mittelpunkt ihre Großmutter ist, während der Vater (John Doman) ein herrisches Arschloch abgibt.

 

Zufällig begegnen Dean und Cindy einander dann in einem Altenheim, wo sie ihre Großmutter besucht und er als Spediteur einem Rentner beim Umzug hilft. Und weil Cindys Freund (Mike Vogel) - mit dem phantastischen Namen "Bobby Ontario" - ebenfalls ein herrisches Arschloch ist, läßt sie sich schließlich auf Dean ein. Beide verlieben sich ineinander - aber ohne Happy End.

Denn in der Gegenwart ist aus dem verspielten Dean ein mit Geheimratsecken versehener Kettenraucher geworden. Mit Bart und Sonnenbrille genießt er es, morgens als Maler schon Bier trinken zu können, während Cindy ihn dafür kritisiert, daß er nicht sein volles Potential ausschöpft. "Lassen wir uns betrinken und miteinander vögeln", lautet daher Deans pragmatische Lösung nach einem Streit.

 

Aus dem Haus müße das Paar einmal, so Dean. Weg von dem einengenden Familienkäfig, stattdessen ein neuerliches Check-in ins Hotel Love. Verstärkt merkt vor allem Cindy, daß sich das Paar entfremdet hat. Zwar könne Dean so viel, will jedoch nicht. So charmant wie dessen Slacker-Haltung einst war, hilft sie wenig, wenn eine Tochter versorgt und ein Beruf ausgefüllt werden müssen.

"Ich hab die Schnauze voll", bricht es an einer Stelle aus Cindy heraus, was Dean vor den Kopf stößt. Bemerkenswerter ist aber eine Szene, in der Cindy im Supermarkt Bobby wiedertrifft und hinterher, als sie Dean davon erzählt, behauptet, dieser sei ein fetter Loser, um das Ego ihres Mannes nicht zu verletzen.

 

Das alles schaut man sich an, wohl wissend, wie es ausgehen wird. Man kennt es ja schon, sowohl aus dem Kino, als auch aus dem wahren Leben. Verliebt, verfremdet - für das Publikum in Zeiten, in denen in Österreich jede vierte Ehe zum Scheitern verurteilt ist, nichts Neues. Wieso Cianfrance für eine Geschichte, die das Kino jährlich mehrere Male auskotzt, 12 Jahre gebraucht hat, bleibt schleierhaft.

Die Bilder sind dabei fast durchweg in Blautönen gehalten. Blau, die Farbe, die sowohl Harmonie und Treue als auch Kälte und Passivität ausdrückt. Über fast zwei Stunden quälen sich Michelle Williams (für diese Rolle zum zweiten Mal oscarnominiert) und Ryan Gosling durch diese teilweise improvisierte Handlung, deren Figuren die Einzigen sind, die den Ausgang nicht kennen.

 

Zwar ist das solide gespielt - primär von Williams in ihrer bis zur Perfektion durchstudierten Art, verletzt und doch selbstbestimmt zu sein -, aber sonderlich originell ist es weder vom Inhalt, noch vom Inszenierungsstil her. Im Grunde ist "Blue Valentine" ein Film über jenen Teil des Lebens, den wir alle zu gut kennen, um ihn uns über 110 Minuten auf der Leinwand anzusehen.

"Die Zeit vergeht - die Liebe bleibt", lautet ein lateinisches Sprichwort, das nach Jahrhunderten in unserer heutigen Zeit kaum noch Bestand hat. So gesehen ist "Blue Valentine" vielleicht doch zu etwas Wertvollem geworden - dem aufschlußreichsten Date-Movie aller Zeiten.

 

Was die Blu-Ray angeht, ist das Bild weitestgehend scharf - bis auf wenige leicht grobkörnige Ausnahmen - und ebenso wie der Ton zufriedenstellend. Zu den Extras zählen ein typisches Making Of voller gegenseitiger Beweihräucherung, sowie gut 15 Minuten an unnützen, entfallenen Szenen (in teils grausiger Qualität). Einzig der Audiokommentar von Cianfrance und Co-Cutter Jim Helton ist halbwegs interessant, da er Einblicke in die improvisierten Szenen gibt.

Blue Valentine

ØØ 1/2

Produktion: USA 2010

Videovertrieb: Universum Film GmbH

 

Blu-Ray Region B

112 Min. + Zusatzmaterial, dt. Fassung oder engl. OF (DTS-HD 5.1)

Features: Audiokommentar von Regisseur Derek Cianfrance, Making Of, Entfallene Szenen

 

Regie: Derek Cianfrance

Darsteller: Ryan Gosling, Michelle Williams, John Doman u.a.

Texte_ Peter Stöger

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Das Monokel des Polyphem - Notizen (30)


Sein literarisches Opus magnum blieb unvollendet. Der EVOLVER präsentiert nun die betreffenden Studien des 1997 verstorbenen Künstlers. Seien Sie gewarnt: Eine Sprache, die "herrschende Textgewohnheiten ignoriert und unter Verwendung pseudoklassischer Formen individuelle, skurrile und anarchische Inhalte" vermittelt, ist nicht jedermanns Sache.
Halten Sie Ihren Homer griffbereit und "den Sphinkter im Zaum"!

In den Jahren 1982 bis 1987 veröffentlichte Peter Stöger sechs schmale Bände mit Vorarbeiten zum "Monokel des Polyphem"; eine ausführliche Introduktion zum Thema finden Sie hier.

Wir bringen dieses brillante Textkonvolut, exklusiv und erstmals im Internet, als fortgesetzte Serie in lesefreundlichen Abschnitten - und zwar als Faksimile, da Typographie (und stellenweise Graphik) eine seitens des Autors gewählte Einheit bilden.

 

[ << zur vorigen Folge ]

 

 

 

 

Daß Exegese eine heikle Sache ist, haben wir bereits in der ersten Folge erörtert.

Immerhin lassen sich hier und heute Stellen, die man nicht versteht, umstandslos nachschlagen.

Erläuterungen des Verfassers selbst - aus der Kommunikation mit seiner Gefährtin tradiert - finden sich fast nur zum ersten Band (hier: Folge 1 bis Folge 15). Es zahlt sich aus, dort nachzulesen, um einen Einblick in die Arbeitsweise des Künstlers zu bekommen.

 

Nächste Woche geht es hier weiter. Für heute verabschieden wir uns wie immer mit den Worten des Autors:
"Ja, die Grausbirnen werden ihnen aufsteigen - ich hoff's - und es g'schieht ihnen recht."


Peter Stöger

1939 - 1997

Peter Stöger: das monokel des polyphem - notizen


Band 3

Vergriffen.
Im Sammelband herausgegeben bei:
Österreichischer Kunst- und Kulturverlag (Ö 2007)
ISBN 9783854372974

Peter Stöger: peregrinus - eine introduktion


Hrsg.: Helga Schicktanz

Österreichischer Kunst- und Kulturverlag (Ö 1998)

Video_ Company Men

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My life ended and nobody noticed


Mit einem All-Star-Lineup im Rücken betrachtet Autor und Regisseur John Wells in seinem eleganten Krisendrama die allgegenwärtigen ökonomischen Verwerfungen aus einem unerwarteten Blickwinkel.

Bobby Walker (Ben Affleck), erfolgreicher Verkäufer bei dem Bostoner Großkonzern GTX, darf rundum zufrieden sein mit seiner beruflichen und privaten Situation. Dank eines sechsstelligen Jahresgehalts ist sein Portemonnaie prall gefüllt und sein Haus hübsch dekoriert, mit einem deutschen Sportwagen in der Einfahrt und einer freundlichen Ehefrau (Rosemarie DeWitt) hinter dem Herd.

Bobbys Lebensrealitäten werden jäh zurechtgerückt, als die weltweiten wirtschaftlichen Turbulenzen auch GTX erfassen und CEO James Salinger (Craig T. Nelson) den Rotstift an seine attraktive Personalchefin Sally Wilcox (Maria Bello) reicht. Im Pool der wegrationalisierten Betroffenen findet sich auch ein im Schockzustand erstarrter Bobby Walker wieder, dem bald bewußt wird, daß die Finanzierung des nächsten Familienurlaubs noch seine geringste Sorge sein wird, müssen doch auch Ratenzahlungen für das Haus und den Porsche bedient werden. Orientierungslos taumelt er aus dem Sonnenschein einer bisher als selbstverständlich wahrgenommenen strahlenden Gegenwart in die unkalkulierbare graue Realität einer ungewissen Zukunft.

 

Die Auseinandersetzung mit der Krise innerhalb der krawattentragenden Gesellschaft des mittleren Managements stattfinden zu lassen, erscheint zunächst fragwürdig, wenn nicht gar provokant. Doch dem Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzenten John Wells gelingt es nichtsdestotrotz, seinem arroganten Sonnyboy Bobby Walker Sympathien zu sichern.

Sich zunächst noch gegen das Unvermeidliche stemmend, muß dieser den Verlust der erworbenen materiellen Annehmlichkeiten ohnmächtig akzeptieren: Urlaube, Restaurantbesuche und die prestigeträchtige Mitgliedschaft im Golfclub fallen flach; schließlich sind selbst das schicke Anwesen und der geliebte Wagen in Gefahr.

Solidaritätsgefühle sind bei einem Mann am Boden - selbst einem solch verwöhnten Schnösel wie Bobby - leicht zu entfachen. John Wells tut eben dies und erweitert den Kreis der Geschaßten gleichermaßen auf langgediente GTX-Mitarbeiter der ersten Stunde, die nicht mehr in der Lage sind, sich auf ein Leben fernab der gewohnten Luxuriösität einzustellen. Somit sind es tatsächlich vor allem die in Glaspalästen Geld scheffelnden "Company Men", die von Wells als Krisenverlierer in den Mittelpunkt gerückt werden.

 

Selbst Gene McClary (Tommy Lee Jones), die millionenschwere Rechte Hand Salingers, wird zum Sympathieträger stilisiert. Doch Wells kommt auch damit davon; und zwar Dank Tommy Lee Jones, der McClarys Redlichkeit und Loyalität glaubhaft transportieren kann: Der Jugendfreund Salingers war einst Gründungsmitglied jenes Schiffbauers, aus dem später GTX hervorgehen sollte.

Nostalgische Anhänglichkeiten werden letzten Endes brutal hinweggefegt, als sich die Führung des Multimilliardendollarkonzerns dem entfesselten Börsenmarkt beugt. Obwohl mit Reichtum gesegnet, verleiht McClary als idealistischer Dinosaurier des alten, ehrlichen Schlags dem untergegangenen hemdsärmeligen Unternehmertum von anno dazumal ein menschliches Antlitz. Eben dieses verlorengegangene "anständige" Handwerk repräsentiert Kevin Costner in einer sehr zurückhaltend angelegten Nebenrolle: Jack Dolan, moralisch lupenreiner Chef eines Kleinstbetriebs, wirkt als Stellvertreterfigur des hart arbeitenden Jedermanns wie ein Relikt aus einer anderen Epoche.

 

Die Geschichte dieser "Company Men", die aus der Bahn geworfen, desorientiert und quasi entmannt zurückbleiben, wird ohne Ecken und Kanten, stilistisch hübsch, aber eben auch arg wattiert erzählt; ein solide inszeniertes und gut gespieltes Werk.

Ein schaler Nachgeschmack bleibt daher zurück - angesichts der Tagesaktualität.

Company Men

ØØØ 1/2
The Company Men

Produktion: USA 2010

Videovertrieb: Universum Film GmbH

 

DVD Region 2
100 Min. + Zusatzmaterial, dt. Fassung oder engl. OF

Features: Making of, Audiokommentar, Deleted Scenes, alternatives Ende

 

Regie: John Wells

Darsteller: Ben Affleck, Tommy Lee Jones, Chris Cooper, Kevin Costner u. a.

Video_ The Woman

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Ich Mann, du nix!


Wenn die Zuschauer wie bei der Sundance-Aufführung in Scharen den Kinosaal verlassen, ist das bei provokativem Horror immer auch eine Auszeichnung. In seinem neuen Film konzentriert sich Regisseur Lucky McKee ("May") auf Feminismus und Emanzipation vom Patriarchat. Leider jedoch in ungemein redundant-plakativer Weise.

Wenn uns das Kino etwas gelehrt hat, dann, daß es es so etwas wie eine picture perfect family nicht gibt. Im Gegenteil, gerade die Familie, die schrecklich nett wirkt, hat meistens die ältesten Leichen im Keller. So auch in Lucky McKees jüngstem Werk "The Woman", das zu Beginn zwei unterschiedliche Weltverständnisse miteinander kontrastiert.

Den Anfang bildet die titelgebende Frau (Pollyanna McIntosh), hier durchaus als Vertreterin ihres Geschlechts zu verstehen. Ungezähmt, unabhängig und frei haust sie in der Natur. Wie Mogli oder Romulus und Remus von Wölfen erzogen, ihr eigener ... Herr in ihrer eigenen Welt. Dem gegenüber stellt McKee dann eine kontemporärere Einstellung, mit der Frau als Gefangenen.

 

Als Objekt der Begierde begegnet der Zuschauer der jungen Peggy Cleek (Lauren Ashley Carter), während ihre Mutter Belle (Angela Bettis) ihrem Mann brav ein kühles Bier bringt und von ihm kommandiert wird, nach dem Essen zu schauen. Chris Cleek (Sean Bridgers) ist ein angesehenes Mitglied seiner Gemeinde, so zumindest hat es den Anschein.

Bei einem Jagdausflug prallen dann die beiden Welten aufeinander. Chris als männlicher Jäger trifft auf die wilde Frau, seine geordnete "Zivilisation" auf ihre ungestüme Freiheit. Musikalisch wird dieser erste Kontakt via Male Gaze in Slow Motion dann zynisch von Sean Spillane mit Popgedudel ("my stomache's just twisted with emotion") unterlegt, wie man es aus Teeniefilmen kennt.

 

Und so beginnt der Lauf der Dinge. Kurzerhand baut Chris einen Kellerraum um, fängt die Frau ein und kettet sie an. Fortan geht es darum, zu zeigen, "wer hier das Sagen hat". Die Familie wird eingeweiht und soll Chris darin unterstützen, der Frau zu "helfen". Waschen, ankleiden, trainieren, zivilisieren. "Sie von sich selbst befreien" nennt Chris das und beschreibt es gegenüber der Familie als "unser Projekt".

Als Jäger und Sammler ist Chris ein Macher - jemand, der die Dinge selbst in die Hand nimmt. Widerworte ist er dabei nicht gewohnt und duldet sie auch nicht von den Frauen in seinem Leben, wie er Gattin Belle bei deren anfänglichen Zweifeln klar macht. Frauen sind für Chris Wesen zweiten Ranges, das macht McKee mehrfach deutlich. Sei es im Verhältnis zu seiner Gattin oder gegenüber seiner Sekretärin.

 

Das Bild gewinnt klarere Züge. Belle ist ohnehin eingeschüchtert und ihrem Mann hörig, Peggy zieht sich ebenfalls verstärkt in sich zurück, was auch ihre engagierte Lehrerin bemerkt. Dagegen verfällt Sohn Brian (Zach Rand) mehr und mehr dem Streben, seinem väterlichen Vorbild zu folgen. Beider Faszination richtet sich auf die Frau, die Vater wie Sohn infolgedessen sexuell mißbrauchen.

Erneut unterlegt dies Sean Spillane mit einem romantisch angehauchtem Stück ("Patient Satellite") und den Bildinhalt pervertierenden Textzeilen wie "It's all right", "You will see that I'm right" oder "You will be all right". Die durch die männlichen Cleeks ausgelebte Misogynie bewegt sich allmählich auf ihren Höhepunkt zu - mit einer entsprechenden Bewertung von Chris gegenüber Belle, daß "Jungs eben Jungs sind".

 

Es war jene, den feministischen und emanzipatorischen Elementen von "The Woman vorausgehende Diskriminierung, die beim Sundance Filmfestival im Januar 2011 zu einem Skandal führte. Wo man sich dort allerdings über die frauenfeindliche Darstellung generell echauffierte, wäre der Zorn eher ob ihrer redundanten und plakativen Art der Umsetzung gerechtfertigt.

Denn McKee arbeitet hier mit dem Holzhammer. Mit einfachen Bildern eines Frauenunterdrückers und kleinstädtischen Mittelstands-Patriarchen, die zwar durch ihre unernste Inszenierung unterhalten, aufgrund ihrer unsubtilen Art auf Dauer jedoch ermüden. Etwas mehr subversive Kritik - wie von George A. Romero in "Day of the Dead" geübt - hätte hier nicht geschadet.

 

Hinzu kommt, daß sich die Ereignisse im finalen Drittel dann plötzlich überschlagen. Zwar agieren die Figuren hier letztlich angesichts der Situation durchaus nachvollziehbar, jedoch so überhastet, daß vieles - darunter Figuren, die aus heiterem Himmel auftauchen - vom Publikum erst im Anschluß aufgearbeitet werden muß.

Ähnlich wie der reale Feminismus läßt McKee also in "The Woman" seine Emanzipation über das chauvinistische Patriarchat hereinbrechen. Der Gore-Anteil nimmt ordentlich zu, der Zynismus wird in die "richtige" Richtung verkehrt und das nicht-cineastische Weltbild wiederhergestellt, wenn am Ende eine Familie zueinanderfindet, die zwar nicht schrecklich nett, aber dennoch total normal scheint.

 

Die Blu-Ray liefert einen vorzüglichen HD-Transfer, der ein scharfes und klares Bild mit satten Farben verspricht. Auch über die Tonabmischung kann man sich nicht beschweren. Bei den Extras ist das rund 20-minütige 'Making Of' dem wenig gehaltvollen Blick hinter die Kulissen und den entfallenen Szenen vorzuziehen, während der animierte und von McKee produzierte surrealistische Kurzfilm "Burro Boy" eine zusätzliche Herausforderung zur Sichtung von "The Woman" darstellt.

 

 

               

 

The Woman

ØØØ

Produktion: USA 2011

Videovertrieb: Capelight Pictures (AL!VE)

 

Blu-Ray Region B

103 Min. + Zusatzmaterial, dt. Fassung und engl. OF (DTS-HD 5.1)

Features: Making Of, Entfallene Szenen, Hinter den Kulissen, Kurzfilm "Burro Boy"

 

Regisseur: Lucky McKee

Darsteller: Pollyanna McIntosh, Sean Bridgers, Angela Bettis u.a.

Musik_ Zweimal Händel, einmal Belanglosigkeit

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Rauf-Händel und Psychosen


Im heurigen Händel-Schwerpunkt brachte das Theater an der Wien konzertante Aufführungen des Oratoriums "Jephta" und der Oper "Giulio Cesare in Egitto". Während die Vertonung von Cäsars Geschichte eine Sternstunde war, wirkte "Jephta" bis auf den Hauptdarsteller seltsam lahm - trotz prominenter Besetzung. Doch das alles war noch um einiges besser als Lera Auerbachs musikalischer Einbruch in Gogols Gehirn.

Mit der Uraufführung von Lera Auerbachs Oper "Gogol" hat die Intendanz des Theaters an der Wien dem Bildungsauftrag soweit Genüge getan, daß zumindestens ein paar tausend Menschen das musikalische Verwirrspiel um des Schriftstellers Psychosen erleben konnten. Daß die Aufführung ein reiner Kunstgenuß war, werden nicht alle bestätigen, die sie gesehen und gehört haben. Beeindruckend war wenigstens die Performance der Solisten, Tänzer und Statisten sowie des ORF-Orchesters mit Vladimir Fedoseyev am Pult.

Als wenig berauschend erwiesen sich hingegen Komposition und Umsetzung. Dabei sollen die Fähigkeiten der 38jährigen russischen Komponistin nicht in Frage gestellt werden: sie beherrscht die Instrumentationstechnik aus dem Effeff. Doch leider beschränkt sich ihr Können auf das Tontechnische ...

Auerbachs Oper "Gogol" kann man im besten Fall noch expressionistische Ausdrucksmusik nennen; der Wahrheit näher käme aber eine Betrachtung der Musik als sequentielles Abspulen einzelner Phrasen (nicht einmal Motiven!). Die ersten beiden Akte waren größtenteils Leerläufe, gerade im dritten Akt waren die ersten beiden Szenen ("Vor sich selbst davonlaufen", "Der Brautmarkt") recht packend, und auch die dritte Szene ("Totentanz") begann recht eindrucksvoll, um dann in einem geschwätzigen und unpassenden Schluß auszuklingen.

Christine Mielitz ist eine faszinierende und intelligente Frau, der "verquere" Ansichten aber scheinbar immer wieder so dazwischenkommen, daß sie viele Inszenierungen in den Sand setzt. Für den EVOLVER-Klassikexperten war die Produktion weniger eine Oper als eine langweilige Revue. Trotzdem konnte ein hervorragendes Sängerensemble wenigstens die interpretatorische Qualität hochhalten (vor allem Martin Winkler und Otto Katzameier als Gogol sowie Natalia Ushakova mit ihrem glasklaren Sopran). Ein spezielles Lob gilt dem 14jährigen Florian Lienhardt von den Grazer Sängerknaben. Fulminant, wie der Bub die schwierige Partie souverän brachte.

 

260 Jahre früher komponierte Georg Friedrich Händel sein Oratorium "Jephta". Das Werk erzählt die Geschichte von der Befreiung der Israeliten und ist vom Komponisten sehr "akademisch" angelegt. Im Vergleich zu seinen anderen Stücken ist es oft sehr eintönig komponiert, was durch die Interpretation bei der Aufführung noch übermäßig betont wurde.

Ein seltsam blasses Barockensemble Les Arts Florissants unter seinem Dirigenten William Christie und eine (bis auf Kurt Streit) ebensolche Sängerschar wußten nicht zu begeistern. Nur der kanadische Tenor Streit legte all seine Emotionen in die Partie und brillierte mit seiner wunderschönen Stimme; er interpretierte jede Phrase und jedes Wort. Das kann man von seinen Kollegen nicht behaupten - hier dürfte die unausgesprochene Desvise eher "wortundeutlich und langweilig" gelautet haben, wie an der mangelhaften Leistung der jungen Rachel Redmond als Engel zu bemerken war: Eigentlich hätte sie ja eine Jubelbotschaft zu verkünden gehabt (nämlich, daß Jephtas Tochter Iphis überleben darf), doch man hatte vielmehr den Eindruck, sie lese die Bedienungsanleitung eines Elektrorasierers vor.

 

Völlig konträr dazu wußte die musikalische Erzählung von Julius Cäsars Erlebnissen in Ägypten mit seiner Geliebten Cleopatra vom ersten Ton an zu überzeugen. Bei der konzertanten Aufführung der Händel-Oper "Giulio Cesare in Egitto" boten zwei Kanadierinnen ein großes künstlerisches Erlebnis: Marie-Nicole Lemieux mit einer Altstimme von Weltklasse als Cäsar und Karina Gauvin als Cleopatra lieferten eine Lehrstunde in Technik, Musikalität und Interpretation. Lemieux hat eine Stimme wie seinerzeit Marilyn Horne und brillierte vom ersten bis zum letzten Takt; ganz grandios war ihre "Pastoralarie" im zweiten Akt (zweite Szene). Im Dialog mit der Solovioline zauberte sie mit unendlicher Tiefe und exzellenten Koloraturen ein musikalisches Landidyll. Übrigens hat diese G-Dur-Arie viele Ähnlichkeiten mit em Hauptthema des ersten Satzes von Ludwig van Beethovens 6. Symphonie in F-Dur ("Pastorale"), die mehr als 80 Jahre später uraufgeführt wurde.

Im Gegensatz zu seinem "Jephta" legte der Komponist in diese Komposition über den römischen Feldherrnall sein ganzes Können. Ob in der Arie mit Solohorn oder den speziellen Fagottstimmen - Händel bewies, wie man mit bescheidenen Mitteln ein Klangerlebnis zaubern kann.

Schade war nur, daß Dirigent Alan Curtis offenbar eine "Sparvariante" für diese Aufführung wählte; vor allem die zwei Hörnerpaare fehlten sehr. Trotzdem holte der Maestro ein Maximum an Klangpracht aus seinem Ensemble. Von exzellenter Qualität waren auch die anderen Sänger, wie etwa Filippo Meneccia, Romina Basso, Emöke Baráth, Johannes Weisser und Milena Storti. Mit diesem Konzert kam Cäsar, sah und siegte - nicht nur in der Geschichte!

Georg Friedrich Händel - Jephta

ØØ
Oratorium in drei Akten

Theater an der Wien

 

Les Arts Florissants/William Christie

 

Besetzung: Kurt Streit, Kristina Hammarström, Katherine Watson u.a.

 

Konzertante Aufführung am 17. November 2011

Georg Friedrich Händel - Giulio Cesare in Egitto

ØØØØØ
Oper in drei Akten

Theater an der Wien

 

Il Complesso Barocco/Alan Curtis

 

Besetzung: Marie-Nicole Lemieux, Karina Gauvin, Filippo Meneccia u.a.

 

Konzertante Aufführung am 23. November 2011

Lera Auerbach - Gogol

Ø 1/2
Oper in drei Akten

Theater an der Wien

 

ORF-Radiosymphonieorchester/Vladimier Fedoseyev

Arnold Schoenberg Chor, Grazer Kapellknaben, Mozartknabenchor Wien

 

Regie: Christine Mielitz

 

Besetzung: Martin Winkler, Otto Katzmeier, Ladislav Elgr, Natalia Ushakova, Florian Lienhart u.a.

 

Uraufführung: 15. November 2011

Aufführungen: 18., 21., 24. und 26. November 2011


Kolumnen_ Unerwünschte Nebenwirkungen

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Schwerwiegend


Dr. Trash empfiehlt: Denken Sie nicht nach, sondern vor. Zum Beispiel über die Frage, warum Zigaretten jetzt EU-weit dauernd ausgehen: Angeblich, weil sie einst so viele Brände verursacht haben - man erinnere sich an die lodernden Tischnachbarn im Kaffeehaus. Wer solchen Dreck glaubt, ist nicht nur geistig angeschlagen, sondern Opfer von Agenturen, die Tag für Tag Bleichmittel für die globale Gehirnwäsche erzeugen. Sogar, wenn es um Comics und Otakus geht ...

Agenturmeldungen sind das Letzte.

Selbst als Freund der "unsichtbaren Literatur" kann der Doc dem Textmüll, den Presseagenturen ausschicken und der dann meist eins zu eins vom Boulevard, den Qualitäts-Propagandaorganen und dem Staatsfunk abgekupfert wird, nichts abgewinnen. Zumal ja klar und bekannt ist, daß diese angeblichen Nachrichten A. von ausländischen Agenturen übernommen, B. von Spin-Doktoren konstruiert oder C. von Werbemenschen erfunden wurden.

Dennoch gab’s vor kurzem eine wie immer hatschert formulierte Meldung, die den alten Trash faszinierte: Der Comic-Verlag Marvel, mittlerweile im Besitz der Disney-Corporation und verantwortlich für Kino-Superheldenschund wie Thor und Captain America, hat Comic-Händler dazu aufgerufen, die Hefte des größten Konkurrenten DC (Besitzer: Time Warner) zu zerstören. Für jedes vernichtete DC-Produkt sollen die Händler ein limitiertes Marvel-Comic gratis erhalten.

Üble Sache – und typisch für die mutierten X-Men von Marvel. Der Konflikt zwischen den beiden Comic-Giganten wird ja bereits seit Jahrzehnten ausgetragen, bis in die Herzen der Fans hinein. Die Frage, ob man Marvel oder DC (die Heimat von Superman und Batman) lieber hat, stellt sich bereits in frühester Jugend und ist etwa so lebensentscheidend wie einst die Präferenz für die Beatles oder die Stones. Als altem Fab-Four-Freund, der stets mehr auf Qualität setzte als auf Pseudo-Revoluzzerei, war und ist dem Doc DC naturgemäß näher; nicht umsonst sind ja auch die genialen Watchmen dort erschienen ...

Umso größer war die Freude, als vor nicht ganz einem Jahr der Riesenprachtband 75 Years of DC Comics: The Art of Modern Mythmaking von Paul Levitz im Taschen-Verlag (dt. & engl.) herauskam. Zugegeben, das ist schon eine Zeit her – aber die 720 Seiten wollten einmal ausführlich studiert werden, ohne daß man sich einen Bruch hebt. Nach entsprechenden architektonischen Umgestaltungen kann der Doc guten Gewissens sagen: freigegeben! Investieren Sie ruhig die 150 Euro in dieses unentbehrliche Stück Comic-Geschichte.

Um an den Beginn zurückzukehren: Die vertrottelste Agenturmeldung des Sommers berichtete von der Gründung der US-Firma 1DollarScan, die ihren Kunden anbietet, Bücher, Zeitschriften, Photos etc. billig zu digitalisieren und die Papieroriginale dann zu "entsorgen". Denkt man da nicht gleich an Fahrenheit 451? Der Plan, der Menschheit ihre Bücher zu entziehen, wurde angeblich in Japan ausgeheckt, weil dort (so die Meldung) die Menschen solche Angst haben, bei Erdbeben von ihren Bücherregalen erschlagen zu werden.

Wer sowas kritiklos abschreibt, gehört selbst unter ein paar Regale gesetzt. Irgendwo im Tsunami-Gebiet ...

Dr. Trash empfiehlt

erscheint in gedruckter Form in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Termine_ Release der Nr. 10 von "Rokko’s Adventures"

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Rokkin’ again


Am 16. Dezember erscheint die neue Ausgabe jener "unabhängigen, überparteilichen sowie übermenschlichen Publikation", die eines der wenigen lesenswerten Printmedien deutscher Sprache darstellt. Das wird gefeiert - z.B. am 21. Dezember 2011 im "rhiz". Der EVOLVER rät: Gehen Sie hin!

(Wir überlassen das Wort ROKKO:)

 

Hi Ugly! Hi Stupid!

Unsere neue Ausgabe ist fertig ... darin ist zu lesen über: einen Gang mit der Burka durch Wien, die bezaubernde Hollywoodgestalt Crispin Glover, die Autorin, Künstlerin und Wirtshausgeherin Stefanie Sargnagel, Rimaldas Viksraitis, den Fotograf eines seltsamen Schlaraffenlandes, das Snuff-Phänomen, Auto Crash, die Formel 1 für die kleinen Leut’, die Grindbubis Dog Leather, den Schauspieler Michael Thomas (siehe Infos zum Releasefest!), den Künstler und Risiko-Spaziergeher Francis Alÿs, the mostest angriest boys in town: Death Grips, eine dokumentarische Phantasmagorie über Die da oben, die Schönheit im Audioformat namens Widowspeak, Unwirkliche Wirklichkeiten, die umstrittene Einheit Death in June, die donnergrollende Inkaprinzessin Yma Sumac, Österreichs only and lonely Rock’n’Roll-Star Ronnie Rocket (legt bei der
Releaseshowse auf!), die obskuren Eismagiekriege, Alex Kulisiewicz, der die Musik aus der Hölle dokumentiert hat, Kein Gacki mehr + mehr!

Ab 16. Dezember steht das Ding im Handel, Abonnenten bekommen als Geschenk eine deformierte Aufmerksamkeit vom Stirn Prumzer.

Wegen der neuen Ausgabe findet am 21. Dezember ein richtiges Spektakel im rhiz statt, wo es das Heft auch zu kaufen gibt. Teil der Show sind:

Michael Thomas. Viele kennen den Schauspieler als Stiefpapa aus "Import Export", Ulrich Seidls Glanzstück des alltäglichen Grauens. Sein Weg dorthin ist wiederum ein Stück für sich: Drogen, Huren, Karl May-Festspiele, die Mailänder Scala und der Boxring pflastern seinen Weg. In der aktuellen Ausgabe ist ein ausführlicher Bericht über Michael Thomas – ein Mann, größer als sein eigener Schatten. An diesem Abend wird er Songs von Elvis, Sinatra und zahlreichen mehr durch die Hallen schmettern. Außerdem ist bald Weihnachten. Dieser Tatsache ist sich auch die andere Combo bewußt:
Rokko Anal and The Coathangers sind in deiner Stadt! Die dicken Schweine aus dem Kindermärchen sind zurück! Die Brüder The Bawdy Butcher, Wulla Wulla, Sailor on Speed,
Conan the Grammarian und Rokko Bingo Smith spielen als mehrköpfiger Showimitator, der auf Lärmkastl, Becken, Nägel und Goschn hämmert. Auf der Bühne wird gebaut und
musiziert, traurige Country-Suderer ziehen hinter den ewigen drei Ur-Akkorden in seinen Variationen nach. Roy Orbison meets GG Allin. Nicht nur für Fans von Gena Rowlands,
Shannon Selberg, Edith Massey und Drunks with Guns.

Das Träsh*Kommando marschiert auf und verlautbart: Wiens Clubkultur ist degeneriert. Ein Haufen Hipster, Ignoranten und Snobs versuchen sich im Partymanagement. Aber darin erschöpft sich unser Weggehen eben nicht. Chaoslücken sind überall und immer. Dieses Träsh*Kommando ist ein lose zusammengewürfelter Block von Mädchen: Helme/Planeten/Masken schützen unser Gehirn vor Verseuchung und davor, aus unserem Kopf auszutreten, wenn wir ihn wieder mal gegen die Boxen kleschen wollen.

Als Ehrengast/Karma/Talisman/King of the Jungle ist Hermes Phettberg samt Jeansboy zu Gast. Mehr Worte sind nicht nötig, wären schon fast eine Beleidigung.

Außerdem gibt es nun das erste Buch mit Rokko’s Adventures in Verlagsfunktion zu erwerben: "Hier ist Berlin" des mittlerweile in New York beheimateten Autors und Journalisten JM Stim aka Klaus Stimeder (Gründer von DATUM, Kriegsreporter,…). Mehr Infos + Bestellmöglichkeit zum idealen Weihnachtsgeschenk sowohl für geliebte Omas, gewöhnliche Beziehungspartner wie auch für ungeliebte Stiefkinder hier.
 
Ich hoffe, gut gedient zu haben!

Rokko

 

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Rokko’s Adventures No. 10

Erscheinungstermin: 16. Dezember 2011

Literatur_ im Schnellverfahren

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Der kriminelle Adventkalender 2011


Wenn es um die Frauenquote geht, braucht sich die Krimibranche keine Sorgen zu machen: In diesem Jahr stammt die Mehrzahl weihnachtlicher Mordsgeschichten aus weiblicher Feder.

Uta Rupprecht (Hrsg.): Alle Morde wieder

ØØØØ

Wunderlich (D 2011)

 

Zu behaupten, es wäre witzig, ist vielleicht zuviel des Guten - aber immerhin, das Titelbild dieser Anthologie ist das ansprechendste aller vorgestellten. Da der Sammelband obendrein als Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen daherkommt, 15 durchweg gelungene Erzählungen überwiegend deutschsprachiger Krimiautorinnen (u.a. Sandra Lüpkes, Nicola Förg, Felicitas Mayall, Fran Ray), zweier internationaler Erfolgsautorinnen (Ann Cleeves, Leena Lehtolainen) und immerhin eines männlichen Schreiberlings (Wulf Dorn) enthält, bekommt man für 14,99 Euro ein hochwertiges Leseerlebnis, das sich auch als Geschenk unterm Weihnachtsbaum gut ausnimmt.

 

EVOLVER-Lesetip: "Foie Gras" ist mehr als nur eine Adventstory und mehr als ein Krimi oder ein Thriller, sondern gleichermaßen ein Racheakt, ein Drama und ein trauriges Stück deutsche Geschichte, das von Inge Löhning unspektakulär, aber trotzdem sehr spannend erzählt wird.

Michelle Stöger (Hrsg.): Maria, Mord und Mandelplätzchen

ØØØ

Knaur (D 2011)

 

Es hat das fadeste Titelbild, aber das scheint beabsichtigt, springen doch die 24 Adventkrimis - von ebensovielen Autoren - auf den seit geraumer Zeit lukrativ rollenden Zug der Regionalkrimis; ein Genre, das in manchen (Kritiker-)Kreisen den Ruf der Behäbigkeit genießt.

Die Autorinnen gehören nahezu alle zu den einschlägig Bekannten: unter anderem Gisa Pauly, Zoe Beck, Gisa Klönne, Christiane Franke, Nicola Förg, Ingrid Noll, Susanne Mischke, Judith Merchant, Tatjana Kruse, Petra Busch ... Noch Fragen? Fast schon ein wenig verloren wirken dazwischen die Herren der Zunft, Volker Klüpfel & Michael Kobr, Wolfgang Burger, Richard Birkefeld. Es scheint, Frauen morden besser.

Wer sich endlich mal einen Überblick verschaffen möchte, warum der Lokalkrimi von Sylt bis zur Zugspitze eine so große Fangemeinde besitzt, der kann getrost zu dieser Anthologie greifen. Und wer sich einen Monat lang gut unterhalten lassen möchte, bitte schön, der auch.

 

EVOLVER-Lesetip: Sandra Lüpkes "Wunschverzettelt", bei dem sich eine von ihren zwei plärrenden Kindern gebeutelte Mutter auf der Suche nach den richtigen Weihnachtsgeschenken verzettelt: sehr kriminell, noch viel mehr aber amüsant.

Kathrin Wolf (Hrsg.): Blutiger Advent. Vier Fälle für Kommissar Gabriel

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Diana (D 2011)

 

Kurzkrimis einmal ganz anders, und deshalb auch das diesjährige Highlight unter den Weihnachtsanthologien (auch wenn das Cover nicht viel hermacht): Vier Geschichten, vier Autoren (Michael Koglin, Philip Tamm, Regula Venkse, Steffi von Wolff), aber nur ein Held.

Und der ist ein ziemlich verschrobener Vogel. Kommissar Gabriel ist sein Name, der vermeintlichen Bestechung überführt, deshalb ins Kellerarchiv des Kriminalkommissariats zwangsversetzt, wo er am liebsten darüber sinniert, mit welch feinen Rezepten er seine Labradorhündin Mutter (von der er glaubt, sie sei die Wiedergeburt seiner leiblichen Mutter!) verwöhnen kann. Weil nun aber seine Kollegen nach einer mißlungenen Weihnachtsfeier mit guter Pizza und schlechtem Thunfisch allesamt im Krankenhaus landen, muß Gabriel den Erzengel spielen und über die vier Adventsonntage hinweg Hamburger Mordfälle klären. Damit der Schrullen nicht genug, bekommt er mit Sandra Berger als Assistentin eine leidenschaftliche Punkerin zur Seite gestellt. Stoff genug für weihnachtliche Absurditäten.

 

EVOLVER-Lesetip: Michael Koglin hetzt den Leser in "O du tödliche" mit knapper, schneller Sprache durch ein spannend-amüsantes Kabinett Hamburger Merkwürdigkeiten – und macht vor allem eines: Neugierig auf seine Romane.

Texte_ Peter Stöger

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Das Monokel des Polyphem - Notizen (31)


Sein literarisches Opus magnum blieb unvollendet. Der EVOLVER präsentiert nun die betreffenden Studien des 1997 verstorbenen Künstlers. Seien Sie gewarnt: Eine Sprache, die "herrschende Textgewohnheiten ignoriert und unter Verwendung pseudoklassischer Formen individuelle, skurrile und anarchische Inhalte" vermittelt, ist nicht jedermanns Sache.
Halten Sie Ihren Homer griffbereit und "den Sphinkter im Zaum"!

In den Jahren 1982 bis 1987 veröffentlichte Peter Stöger sechs schmale Bände mit Vorarbeiten zum "Monokel des Polyphem"; eine ausführliche Introduktion zum Thema finden Sie hier.

Wir bringen dieses brillante Textkonvolut, exklusiv und erstmals im Internet, als fortgesetzte Serie in lesefreundlichen Abschnitten - und zwar als Faksimile, da Typographie (und stellenweise Graphik) eine seitens des Autors gewählte Einheit bilden.

 

[ << zur vorigen Folge ]

 

 

 

 

Daß Exegese eine heikle Sache ist, haben wir bereits in der ersten Folge erörtert.

Immerhin lassen sich hier und heute Stellen, die man nicht versteht, umstandslos nachschlagen.

Erläuterungen des Verfassers selbst - aus der Kommunikation mit seiner Gefährtin tradiert - finden sich fast nur zum ersten Band (hier: Folge 1 bis Folge 15). Es zahlt sich aus, dort nachzulesen, um einen Einblick in die Arbeitsweise des Künstlers zu bekommen.

 

Nächste Woche geht es hier weiter. Für heute verabschieden wir uns wie immer mit den Worten des Autors:
"Ja, die Grausbirnen werden ihnen aufsteigen - ich hoff's - und es g'schieht ihnen recht."


Peter Stöger

1939 - 1997

Peter Stöger: das monokel des polyphem - notizen


Band 3

Vergriffen.
Im Sammelband herausgegeben bei:
Österreichischer Kunst- und Kulturverlag (Ö 2007)
ISBN 9783854372974

Peter Stöger: peregrinus - eine introduktion


Hrsg.: Helga Schicktanz

Österreichischer Kunst- und Kulturverlag (Ö 1998)

Kino_ Mission: Impossible - Phantom Protokoll

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Nach der Mission ist vor der Mission


Alle Jahre wieder kommt Tom Cruise mit seinem "Baby", der "Mission: Impossible"-Reihe, daher, um mit Referenz-Action-Szenen die Herzen des Publikums zu gewinnen. Wer nach den müden Aufgüssen von John Woo und J.J. Abrams schon die Hoffnung aufgegeben hatte, den macht Brad Birds Eintrag in die Agentenserie nun wieder munter.

Außenstehende mag die Auswahl an Regisseuren für die jüngsten beiden "Mission Impossible"-Filme verwundern. Zuerst ließ man Serienschöpfer J. J. Abrams ein Multi-Millionen-Dollar-Budget für seinen Debütfilm, und nun wird Pixar-Regisseur Brad Bird, Oscarpreisträger für "Die Unglaublichen" und "Ratatouille", dieselbe Ehre zuteil.

Zeigte sich Cruise vor fünf Jahren von Abrams' Agenten-Serie "Alias" beeindruckt, war es bei Bird dessen animierter Superhelden-Spaß "Die Unglaublichen", der von vielen Seiten für seine Anklänge an frühe "Bond"-Filme gelobt wurde. Wie es scheint, die richtige Entscheidung, lenkt Bird doch "Mission: Impossible" mit "Phantom Protokoll" in neue Bahnen.

 

Zu Beginn geht es erst einmal darum, Ethan Hunt (Tom Cruise) aus einem Moskauer Gefängnis zu befreien. Wie sich herausstellt, entsorgte ihn die Impossible Mission Force (IMF) dort im Zuge einer Strafmaßnahme. Weil jedoch einige russische Abschußcodes für Nuklearwaffen entwendet wurden, ist Hunts Rückkehr wieder erwünscht.

Mit seinen Kollegen Benji Dunn (Simon Pegg) und Jane Carter (Paula Patton) soll er in den Kreml einbrechen. Vor Ort zeigt sich jedoch, daß das IMF-Team zu spät kommt. Der größenwahnsinnige Terrorist Kurt Hendricks (Michael Nyqvist) ist schon da und zündet eine Bombe - was dann der IMF angelastet wird.

 

Es folgt die Auslösung des "Phantom Protokolls", gleichbedeutend mit der Suspendierung der gesamten IMF. Hunt gilt als Attentäter, wird von seinem Vorgesetzten jedoch unter der Bedingung freigelassen, Hendricks daran zu hindern, einen Nuklearkrieg zu provozieren. Unerwartete Hilfe erhält er dabei vom Chefanalysten Brandt (Jeremy Renner).

Auf sich allein gestellt und ohne (technische) Unterstützung von IMF treibt die Mission Hunts Team anschließend nach Dubai. Hier gilt es, einen Deal zwischen Hendricks und der Auftragskillerin Moreau (Léa Seydoux), die im Besitz der Codes ist, zu verhindern. Delikat wird die Angelegenheit, weil Carter noch ein Hühnchen mit Moreau zu rupfen hat.

 

Wie es sich für "Mission: Impossible" gehört, findet der besagte Deal nicht irgendwo statt, sondern im Burj Khalifa - dem höchsten Gebäude der Welt. Bird nutzt den Wolkenkratzer für eine spektakuläre Action-Szene, in welcher der Stunt-affine Cruise an der Außenfassade mehrere Stockwerke des 828-Meter-Gebäudes rauf- und runterklettern muß.

Die Dubai-Sequenz kann außerdem auch stellvertretend für die besonderen Merkmale des vierten Films gesehen werden. Zum einen zeigt sie, daß im Gegensatz zu den früheren Teilen nichts so funktioniert wie geplant. Zum anderen handelt es sich nicht mehr um eine reine Tom-Cruise-Show, sondern um Teamwork.

 

Sowohl die zur Tradition verkommenen Masken (auf die sich besonders Benji unentwegt freut) als auch anderes Equipment des IMF-Teams versagen zur rechten Zeit. Infolgedessen sind Improvisation und Spontaneität gefragt, zugleich wird dadurch die Spannung intensiviert und manches altbekannte Muster aufgebrochen.

Natürlich resultieren viele Probleme hierbei auch aus der Zusammenstellung des Teams. Benji ist ein relativ unerfahrener Ersatz für Luther Stickell (Ving Rhames), Brandt ein skeptischer Analyst, Carter von persönlichen Gefühlen beeinflußt - und Hunt schlichtweg nicht mehr der Jüngste.

 

Aber wo ein Jonathan Rhys-Meyers und eine Maggie Q im Vorgänger nur herumstehen und gut aussehen durften, wird das Team in "Phantom Protokoll" endlich einmal eingebunden. Egal ob Benji, Jane oder Brandt, sie leisten ebenso ihren Beitrag zur Missionerfüllung - auch wenn dies bei ihnen weniger spektakulär ausfällt als bei der Figur von Cruise.

Dennoch sind sowohl die Betonung des Team-Charakters als auch die Hindernisse während der Mission ein erfrischender, neuer Aspekt in der Serie. So endet eine von Hunts imposanten Action-Szenen damit, daß er über mehrere Meter in einen Raum springen will, sich jedoch verkalkuliert, den Kopf anschlägt und beinahe stirbt. Zwei Filme zuvor wäre das undenkbar gewesen.

 

Bei so viel Lob sollten jedoch auch die negativen Elemente des Films nicht vergessen werden. Er ist mit 132 Minuten der bisher längste der Reihe, was man ihm auch subjektiv anmerkt. Speziell die Exposition, die den gesamten ersten Akt einnimmt, gerät zu lang, und der Epilog wäre ebenfalls verzichtbar gewesen.

Die Schlußszene wiederum hängt mit der seit dem dritten Teil anwesenden und irgendwie nicht zum Metier passen wollenden Emotionalität zusammen, die durch die Integration von Renners Figur erneut die "Mission: Impossible"-Welt betritt. So beschwört der Film völlig unnötig Drama herauf, indem er versucht, eine Brücke zum Vorgänger zu schlagen.

 

Das erste Drittel gerät somit zu lang, das Finale wiederum scheitert daran, daß es an die grandiose Dubai-Sequenz anknüpfen muß und somit zum Scheitern verurteilt scheint. Hinzu kommt dann das ewige aus Agentenfilmen bekannte Problem des eindimensionalen, profillosen und somit völlig uninteressanten bösen Gegenspielers.

Hendricks glaubt an Weltfrieden durch einen nuklearen Krieg, ist eigentlich ein Professor, zugleich aber auch Ex-Militäroffizier. Das soll wohl erklären, warum sich ein dicklicher, skandinavischer Gelehrter im Finale im Nahkampf gegen Hunt behauptet. Letztlich ist die Figur allerdings ebensowenig überzeugend ausgefallen wie Jim Phelps, Sean Ambrose und Owen Davian vor ihr.

 

Nichtsdestotrotz bleibt ein positiver Eindruck zurück, fällt "Mission: Impossible - Phantom Protokoll" doch zweifelsohne überzeugender aus als die Teile 2 und 3. Hier wurde die Handlung nicht um Action-Szenen herum konzipiert und verfolgt auch keinen bloßen MacGuffin, um die Liebe als Motiv zu entschuldigen.

Bird verleiht der vierten Mission ein klares Ziel, eine Struktur und einige positive neue Eigenschaften. Daß er dabei am Ende vielleicht ein wenig zu viel wollte und einige Schönheitsfehler produziert hat, kann man entschuldigen. Und sowieso gilt im Falle von "Mission: Impossible" schließlich: Nach der Mission ist vor der Mission. 

 

         

 

Mission: Impossible - Phantom Protokoll

ØØØ 1/2
Mission: Impossible - Ghost Protocol

USA 2011

132 Min.

 

Regie: Brad Bird

Darsteller: Tom Cruise, Jeremy Renner, Paula Patton, Simon Pegg u.a.

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